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Stuttgarter unikurier Nr. 90 November 2002
Kolloquium:
Raum- und Zeitreisen in Literatur und Kultur
 

„Raum- und Zeitreisen in der Literatur und Kultur des 19. und 20. Jahrhunderts“ war ein von Prof. Hans Ulrich Seeber und Dr. Julika Griem von der Abteilung Neuere Englische Literatur des Instituts für Literaturwissenschaft organisiertes Kolloquium überschrieben. Auf Einladung des Zentrums für Kulturwissenschaften und Kulturtheorie kamen fünfzehn Referenten im Internationalen Begegnungszentrum zusammen, um zu diskutieren, wie sich räumliche und zeitliche Parameter sowie konkrete Formen und die Metaphorik des Reisens im Kontext der Modernisierungsprozesse der letzten zwei Jahrhunderte verändert haben. 

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Das Kolloquium wurde mit einem Ausblick in die Vorgeschichte neuzeitlichen Reisens eröffnet. Reinhard Krüger (Berlin) zeigte anhand mittelalterlicher Kosmologien, dass entgegen dem immer noch kursierenden Klischee, man habe sich im Mittelalter die Erde nur als Scheibe vorstellen können, schon früh Vorstellungen eines transparenten, durchdringlichen und zugänglichen Raumes existierten. Christoph Hubig (Stuttgart) untersuchte im Anschluss an die vertikalen Reise-Phantasien des Mittelalters, welche ‚Poesie des Transports’ den Bildungsprozessen der Luftschiffer in Jean Pauls „Titan“ zugrundliegt: Er hob hervor, dass in diesem Roman Raum-, Zeit- und Naturverlust nicht einfach beklagt, sondern als produktive Erfahrungen der Inszenierung, Kompensation und des Perspektivenwechsels genutzt werden, die in dem Goethes Bildungskonzept konterkarierenden Absturz des Luftschiffers Gianozzo münden. Einen Schwerpunkt des Kolloquiums bildeten räumliche und zeitliche Reiseerfahrungen und -metaphern des 19. Jahrhunderts. Stephan Kohl (Würzburg) legte dar, wie Darwins „Voyage of the Beagle“ die hybride Gattung Reisebericht nutzt, um die durch Lyells geologische Forschungen eröffnete „deep time“ als erhabenen Raum zu illustrieren und die Grenzen zwischen tradierten christlichen und evolutionsbiologischen Zeitvorstellungen zu verwischen. Mit Repräsentationen realer Reiseeindrücke beschäftigte sich auch Cäcilie Weissert (Stuttgart): Sie demonstrierte anhand eines Vergleichs der Ägypten-Bilder von David Roberts und Francis Frith, wie in der Photographie Darstellungskonventionen der Lithographie aufgenommen wurden, um das neue Medium traditionssichernd zu legitimieren und gleichzeitig ein ‚authentischeres’ Bild der Vergangenheit zu etablieren. Elmar Schenkel (Leipzig) und Eckart Voigts-Virchow (Giessen) beschäftigten sich mit sehr unterschiedlichen Formen spät-viktorianischen Zeit-Managements: Während Schenkel den Zusammenhang von Drogen-Konsum, Beschleunigung und Zeitreisen untersuchte, zeichnete Voigts-Virchow am Beispiel von Trollopes Dystopie „The Fixed Period“ die dialektischen Dilemmata in den Zeitkonzeptionen des Euthanasie-Diskurses in England nach. Die Vorträge von Horst Thomé (Stuttgart) und Hans Ulrich Seeber (Stuttgart) beschäftigten sich zum Abschluss dieses Themenkomplexes mit totalisierenden Erzählstrategien. Thomé untersuchte am Beispiel von eschatologischen Zeitvorstellungen bei Haeckel, Spengler, Broch und Karl Kraus, wie in diesen zukunftsgerichteten Zeitentwürfen psychische und soziale Erfahrungen synchronisiert und mit gesamtgesellschaftlicher Bedeutung aufgeladen werden konnten, so dass Bildungsentwürfe mit charismatischer Modellwirkung entstanden. Seeber konzentrierte sich dagegen auf panoramatische Szenarien, in denen in Texten der Jahrhundertwende noch Weltgeschichte und frühe Globalisierungsphänomene modelliert wurden, und zeigte anschließend, dass dieser totalisierende Gestus in modernistischen Texten durch mikroperspektivische und fragmentarisierende Erzählmuster abgelöst wird. 

Auseinandersetzung mit Beschleunigung
Klaus Benesch (Bayreuth) und Stefania Michelucci (Udine) führten mit ihren Vorträgen ins zwanzigste Jahrhundert. Letztere schloss an Seebers Überlegungen zur räumlichen Modellierung fragmentierter Zeiterfahrung bei Joyce und Woolf an; Benesch griff auf die romantische Auseinandersetzung mit Geschwindigkeit und Beschleunigung zurück, um am Beispiel von amerikanischen Jugendbüchern der dreißiger Jahre und Essays von Thomas Wolfe zu erläutern, wie das Auto in der amerikanischen Kultur sozialromantisch verklärt und zum demokratischen Ideal hypostasiert wird. Götz Großklaus (Karlsruhe) spannte einen noch weiteren Bogen: Er rekonstruierte Schwellen-Erfahrungen am Beispiel von privaten Gelegenheitsphotographien, den Stadtbildern Eugène Atgets und Katastrophen-Darstellungen des 20. Jahrhunderts und zeigte, wie diese Photographien dazu beitragen, das kollektive Gedächtnis und seine Orte zu organisieren. Eine letzte Gruppe von Vorträgen beschäftigte sich mit realen, psychischen und textuellen Zeitreisen des späten zwanzigsten Jahrhunderts. Barbara Korte (Tübingen) und Julika Griem (Stuttgart) widmeten sich jeweils der intertextuellen Verarbeitung von Reiseerfahrungen des 19. Jahrhunderts: Korte untersuchte anhand von Ruinen-Motiven, wie Ronald Wrights Roman „A Scientic Romance“ die pastoralen und ökologischen Motive aus Richard Jefferies „After London“ wieder aufnimmt, während Griem zeigte, dass in Redmond O’Hanlons retroviktorianischen Reisebüchern die imperiale Blick- und Beschreibungsordnung konterkariert und als anachronistische Authentisierungsstrategie entlarvt wird. Mit Karl-Ludwig Pfeiffers (Siegen) Beitrag wurde deutlich, dass in Erzähltexten Huxleys, Doris Lessings und Irvine Welshs die reale Reiseerfahrung von der Bewusstseinsreise entkoppelt wird. Peter Gendolla (Siegen) versuchte schließlich, die „Psycho-Logik“ (Pfeiffer) solcher phantasmatischer Reisen bis in die gegenwärtige Netz-Literatur zu verfolgen: Er verwies darauf, dass literarische Texte Modernisierungsphänomene kompensieren und Homöostasen regulieren, indem Verfahren der Entschleunigung, des Stillstands und der Stille bereitgestellt werden, die allerdings von der Netzliteratur bisher nur selten überzeugend aufgegriffen werden.

Julika Griem

Kontakt
Prof. Dr. Hans Ulrich Seeber, Dr. Julika Griem, Institut für Literaturwissenschaft/ Abteilung Neuere Englische Literatur, 
Keplerstr. 17, 70174 Stuttgart, 
Tel. 0711/121-3100, -3101, -3093, 
e-mail: nel@po.uni-stuttgart.de

 


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Pressestelle der Universität Stuttgart

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