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Stuttgarter unikurier Nr. 90 November 2002
Stuttgarter Maximen für den Ingenieurberuf:
Die Bringpflicht der Ingenieure
 

Das Präsidium des Vereins der deutschen Ingenieure (VDI) hat Ende 2001 den hier im Kasten abgedruckten Text als „Ethische Grundsätze des Ingenieurberufs” verabschiedet (http://www.vdi.de/imperia/md/content/hg/16.pdf). In Zukunft erhält jedes neue Mitglied des VDI eine Broschüre mit dem deutschen und englischen Text der Grundsätze. Im Rahmen eines zweijährigen Forschungprojektes wurde unter der Leitung des Stuttgarter Ordinarius für Wissenschaftstheorie und Technikphilosophie, Prof. Dr. Christoph Hubig, hierfür ein erster Entwurf erarbeitet. 

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Dieser Entwurf ist - mit weiteren und vertiefenden Ergebnissen des Projektes - als „Quintessenz” im VDI-Report 31 „Ethische Ingenieurverantwortung” dokumentiert und wurde nach intensiven Diskussionen zu einem Konsens gebracht.Mit der offiziellen Verabschiedung der Grundsätze hat der VDI einen überfälligen, notwendigen und zugleich mutigen Schritt vollzogen:

  • überfällig, weil die ethischen Grundsätze die mittlerweile sowohl zeitlich als auch inhaltlich antiquierten „Bekenntnisse des Ingenieurs” von 1950 ablösen;
  • notwendig, zum einen, weil sie sich von anderen zahlreichen Selbstverpflichtungen im internationalen Rahmen signifikant abheben, welche - oft in Form von „code of ethics” - hinter allgemeinen und unverbindlichen Formulierungen in der Regel nicht hinauskommen; und zum anderen, weil sie national wie international ein deutliches Zeichen setzen, indem sie IngenieurInnen aufgrund ihres Fachwissens eine „besondere Verantwortung” und eine „Bringpflicht” gegenüber der Gesellschaft einforden;
  • mutig, weil sie nicht nur eine Orientierungsleistung für IngenierInnen bei der „Beurteilung von Verantwortungskonflikten” bieten, sondern den VDI selbst in die Pflicht nehmen durch „Bildung geeigneter Einrichtungen” zur „Aufklärung, Beratung, Vermittlung, Förderung und zum Schutz der Beteiligten in allen Fragen der Technikverantwortung”

Damit sind sie anschlussfähig an zahlreiche international geführte Diskussionen, für die stellvertretend nur einige Schlagworte genannt seien: „Extended Product Responsibility”, „Whistle-blowing”, „Corporate Social Responsibility”, „Global Governance”, „Technology Assessment”. Auf die - eingeforderte - „Umsetzung in die Praxis” und auf die Außenwirkung der ethischen Grundsätze darf man daher sehr gespannt sein.

Kontakt
VDI Verein Deutscher Ingenieure, Postfach 10 11 39, 40002 Düsseldorf
Tel. 0211/ 62 14-6 40, Fax (0211) 62 14-5 75 
kundencenter@vdi.de

www.vdi.de 

Prof. Dr. phil. Christoph Hubig, 
Abteilung für Wissenschaftstheorie und Technikphilosophie, Tel 0711/ 121-2491, 
Fax 0711/ 121-2492. 
e-mail: wttp@gmx.de
www.uni-stuttgart.de/wt/

 

Ethische Grundsätze des Ingenieurberufs

Präambel
In der Erkenntnis, dass Naturwissenschaft und Technik wesentliche Gestaltungsfaktoren des modernen Lebens und der Gesellschaft in Gegenwart und Zukunft darstellen, sind sich Ingenieurinnen und Ingenieure ihrer besonderen Verantwortung bewusst. Sie richten ihr Handeln im Beruf an ethischen Grundsätzen und Kriterien aus und setzen diese konsequent in die Praxis um. Die Grundsätze bieten Orientierung und unterstützen die Einzelnen bei der Beurteilung von Verantwortungskonflikten. Der VDI ergreift Maßnahmen zur Aufklärung, Beratung, Vermittlung, Förderung und zum Schutz der Beteiligten in allen Fragen der Technikverantwortung.

1. Verantwortung
1.1 Ingenieurinnen und Ingenieure sind alleine oder - bei arbeitsteiliger Zusammenarbeit - mitverantwortlich für die Folgen ihrer beruflichen Arbeit sowie für die sorgfältige Wahrnehmung ihrer spezifischen Pflichten, die ihnen aufgrund ihrer Kompetenz und ihres Sachverstandes zukommen. 
1.2 Sie verantworten ihre Handlungen gegenüber ihrem Berufsstand, den gesellschaftlichen Institutionen, den Arbeitgebern, Auftraggebern und Techniknutzern.
1.3 Sie achten die gesetzlichen Regelungen des Landes, in dem sie tätig sind, sofern diese universellen moralischen Grundsätzen nicht widersprechen; sie kennen die gesetzlichen Regelungen, die für ihre berufliche Arbeit einschlägig sind und setzen sich in ihrem Einflussbereich für deren Befolgung ein. Darüber hinaus wirken sie aus ihrer fachlichen Kompetenz heraus beratend und kritisch am Zustandekommen und der Fortschreibung rechtlicher und politischer Vorgaben mit.
1.4 Ingenieurinnen und Ingenieure bekennen sich zu ihrer Bringpflicht für sinnvolle technische Erfindungen und Lösungen: Technische Verantwortung nehmen sie wahr, indem sie für Qualität, Zuverlässigkeit und Sicherheit sowie fachgerechte Dokumentation der technischen Produkte und Verfahren sorgen. Sie sind mitverantwortlich dafür, dass die Nutzer technischer Produkte über die bestimmungsgemäße Verwendung und über die Gefahren eines naheliegenden Fehlgebrauchs hinreichend informiert werden. Strategische Verantwortung nehmen Ingenieurinnen und Ingenieure wahr, indem sie daran mitwirken, die jeweiligen Leistungsmerkmale technischer Produkte und Verfahren festzulegen: Sie zeigen Lösungsalternativen auf, eröffnen neue Suchräume und berücksichtigen die Möglichkeiten von Fehlentwicklungen und vorsätzlichem Fehlgebrauch.

2. Orientierung
2.1 Ingenieurinnen und Ingenieure sind sich der Einbettung technischer Systeme in gesellschaftliche, ökonomische und ökologische Zusammenhänge bewusst und berücksichtigen entsprechende Kriterien bei der Technikgestaltung, die auch die Handlungsbedingungen künftiger Generationen achtet: Funktionsfähigkeit, Wirtschaftlichkeit, Wohlstand, Sicherheit, Gesundheit, Umweltqualität, Persönlichkeitsentfaltung und Gesellschaftsqualität (VDI 3780).
2.2 Grundsätzlich orientieren sie sich bei der Gestaltung von Technik daran, die Bedingungen selbstverantwortlichen Handelns in der Gegenwart und Zukunft zu erhalten. Insbesondere sind alle Handlungsfolgen zu vermeiden, die sich zu „Sachzwängen” (Krisendruck, Amortisationszwängen) entwickeln und nur noch bloßes Reagieren erlauben. Erst der Erhalt von Freiheit und ihrer ökologischen, ökonomischen und sozialen Bedingungen ermöglicht eine pluralistische Ausrichtung auf Güter jenseits von Fremdbestimmung und Dogmatismus, auch und gerade für die zukünftigen Generationen.
2.3 Die spezifische Ingenieurverantwortung orientiert sich an Grundsätzen allgemein moralischer Verantwortung, wie sie jeglichem Handeln zukommt. Sie verbietet, Produkte für ausschließlich unmoralische Nutzung (beispielsweise ausgedrückt durch internationale 
Ächtung) zu entwickeln und 
unwägbare Gefahren und unkontrollierbare Risikopotentiale zuzulassen.
2.4 In Wertkonflikten achten Ingenieurinnen und Ingenieure den Vorrang der Menschengerechtigkeit vor einem Eigenrecht der Natur, von Menschenrechten vor Nutzenserwägungen, von öffentlichem Wohl vor privaten Interessen sowie von hinreichender Sicherheit vor Funktionalität und Wirtschaftlichkeit. Dabei sind sie sich bewusst, dass Kriterien und Indikatoren für die unterschiedlichen Wertbereiche nicht dogmatisch vorauszusetzen, sondern nur im Dialog mit der Öffentlichkeit zu ermitteln, abzuwägen und abzugleichen sind.

3. Umsetzung in die Praxis
3.1 Ingenieurinnen und Ingenieure verpflichten sich, ihre beruflichen Kompetenzen zu erhalten und im Zuge ständiger Weiterbildung fortzuentwickeln. 
3.2 Widerstreitende Wertvorstellungen müssen in fach- und kulturübergreifenden Diskussionen erörtert und abgewogen werden. Daher erwerben und pflegen Ingenieurinnen und Ingenieure die Fähigkeit, sich an solchen Diskussionen zur Technikbewertung konstruktiv zu beteiligen. 
3.3 Ingenieurinnen und Ingenieure sind sich der rechtlichen Bedeutung ingenieurethischer Grundsätze und Richtlinien bewusst. Denn zahlreiche allgemeine Wendungen im Umwelt-, Technik- und Arbeitsrecht verweisen auf die Notwendigkeit ingenieurethischer und -wissenschaftlicher Ausfüllung, an der Ingenieurinnen und Ingenieure, gestützt auf ihre professionelle Urteilskraft, mitwirken. Das Arbeitsrecht geht einer Berufsordnung, diese wiederum privatrechtlichen Vereinbarungen vor.
3.4 In berufsmoralischen Konfliktfällen, die nicht zusammen mit Arbeit- und Auftraggebern gelöst werden können, suchen Ingenieurinnen und Ingenieure institutionelle Unterstützung bei der Verfolgung ethisch gerechtfertigter Anliegen. Notfalls ist die Alarmierung der Öffentlichkeit oder die Verweigerung weiterer Mitarbeit in Betracht zu ziehen. Um solchen Zuspitzungen vorzubeugen, unterstützen Ingenieurinnen und Ingenieure die Bildung geeigneter Einrichtungen, insbesondere auch im VDI. 
3.5 Sie engagieren sich bei der Förderung, Gestaltung und Wahrnehmung technologischer Aufklärung sowie technikethischer Reflexion in Aus- und Weiterbildung an Schulen und Hochschulen, in Unternehmen und Verbänden.
3.6 Sie wirken an der Fortentwicklung und Anpassung dieser berufsethischen Grundsätze mit und beteiligen sich an einschlägigen Beratungen.

Ingenieurinnen und Ingenieure

  • verantworten allein oder mitverantwortlich die Folgen ihrer beruflichen Arbeit sowie die sorgfältige Wahrnehmung ihrer spezifischen Pflichten.
  • bekennen sich zu ihrer Bringpflicht für sinnvolle technische Erfindungen und nachhaltige Lösungen.
  • sind sich bewusst über die Zusammenhänge technischer, gesellschaftlicher, ökonomischer und ökologischer Systeme und deren Wirkung in der Zukunft.
  • vermeiden Handlungsfolgen, die zu Sachzwängen und zur Einschränkung selbstverantwortlichen Handelns führen.
  • orientieren sich an den Grundsätzen allgemein moralischer Verantwortung und achten das Arbeits-, Umwelt- und Technikrecht.
  • diskutieren widerstreitende Wertvorstellungen fach- und kulturübergreifend.
  • suchen in berufsmoralischen Konfliktfällen institutionelle Unterstützung.
  • wirken an der Auslegung und Fortschreibung rechtlicher und politischer Vorgaben mit.
  • verpflichten sich zur ständigen Weiterbildung.
  • engagieren sich bei der technologischen Aufklärung in Aus- und Weiterbildung an Schulen, Hochschulen, in Unternehmen und Verbänden.

Düsseldorf, im Oktober 2001

 


last change: 25.11.02 / gh
Pressestelle der Universität Stuttgart

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