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Stuttgarter unikurier Nr. 90 November 2002
Uni-Institute am Projekt Stadt 2030 beteiligt:
Stuttgart in dreißig Jahren - wie verkraftet die Stadt soziale Veränderungen? 
 

In dreißig Jahren wird es in Stuttgart mehr alte Menschen, mehr Ausländer und weniger Industriearbeitsplätze geben. Wie dies zu verkraften ist, untersucht das Forschungsprojekt Stadt 2030. Neben Stadt und Regionalverband Stuttgart beteiligen sich daran auch das Städtebau-Institut sowie das Institut für Geographie der Uni Stuttgart.

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Das Projekt entstand im Rahmen eines Ideenwettbewerbs, den das Bundesministerium für Bildung und Forschung im Jahr 2000 ausgeschrieben hatte. Ziel war es, Utopien und Leitbilder für die Stadtentwicklung der Zukunft zu finden. Rund 20 Städte und Regionen kamen in die Endrunde. Sie lieferten Vorschläge zu den Themenkreisen Regionalisierung, Identität und Integration. Letzteres stand im Mittelpunkt des Stuttgarter Beitrags.

Um festzuhalten, welche Entwicklungen auf die Stadt zukommen, trugen Professor Wolf Gaebe und Projektleiterin Dr. Susanne Albrecht am Institut für Geographie in einem ersten Schritt empirische Basisdaten zusammen und prüften, inwieweit allgemeine Trendprognosen zur demographischen und sozialen Entwicklung überhaupt auf die Region Stuttgart übertragbar sind. In einer zweiten Phase wird mit Hilfe von Interviews erhoben, wie sich charakteristische soziale Gruppen wie etwa Migranten in Sachen Job, Wohnen und Freizeit verhalten oder wie sie dies gerne tun würden.

Die Ergebnisse, so Dr. Susanne Albrecht, bergen reichlich Sprengstoff: Stuttgart könnte in den nächsten Jahrzehnten in „segregierte” Stadtviertel zerfallen, die recht einseitige Bevölkerungsstrukturen aufweisen. Eine der Ursachen hierfür ist die erwartete Zuwanderung. Fast die Hälfte aller Stuttgarter, so die Prognose, werden im Jahr 2030 einen ausländischen Pass haben oder ausländischer Herkunft sein. Viele von ihnen sind geringqualifizierte Arbeitnehmer. Da gerade unter ihnen der Anteil an Sozialhilfeempfängern und Arbeitslosen vergleichsweise hoch ist, dürfte dies mit einer Verarmung von Stadtvierteln mit einem hohen Anteil an Zuwanderern einhergehen. Verstärkt wird die Entwicklung dadurch, dass der Region im Zuge des Strukturwandels in der Wirtschaft klassische Industriearbeitsplätze verloren gehen - eben jene Jobs, die überproportional oft von Ausländern ausgeübt werden. 

Eine andere Einflussgröße ist der beschleunigte Alterungsprozess in der Bevölkerung, der vor allem in den Neubaugebieten am Stadtrand zum Tragen kommt. Dort wohnen heute noch junge Familien. In dreißig Jahren könnten daraus „Altenviertel” geworden sein.

Drei Stadtviertel im Visier
Wie das Konfliktpotential solcher Segregationsprozesse entschärft werden kann, untersuchen die Professoren Helmut Bott und Johann Jessen sowie Diplomingenieur Axel Fricke am Städtebau-Institut. Herausgepickt haben sie sich hierfür drei Stadtviertel, die im Entstehen sind oder sich in einem ausgeprägten Strukturwandel befinden.
Das Thema gemeinsames Altern wird am Beispiel des Neubaugebiets Scharnhäuser Park in Ostfildern untersucht. Auf dem ehemaligen Kasernengelände vor den Toren Stuttgarts entsteht derzeit eine Siedlung für 10 000 Menschen. Wenn aus einer solchen Agglomeration ein Stadtteil werden soll, mit dem sich die künftigen Bewohner über Jahrzehnte hinweg identifizieren können, müssen die Gebäude sich den veränderten Lebensgewohnheiten der Bewohner flexibel anpassen können. Das Problem dabei, so Bott: „Bei einigen Einflussgrößen wie etwa der Nutzung von Online-Diensten oder der Telearbeit lässt sich heute erst erahnen, wie sie sich in Zukunft entwickeln.”
Daher wurden alternative Zukunftsszenarien konzipiert, die nun gemeinsam mit den Städten Stuttgart und Ostfildern, der Volkshochschule und einer Bürgerinitiative diskutiert werden.

Neckartal verändert sein Gesicht
Wie sich der Wandel der Arbeitswelt auswirken könnte, wurde am Beispiel des Neckartals zwischen Hafen und Gottlieb-Daimler-Stadion veranschaulicht. Dieses Areal weist laut Statistik einen hohen Anteil an Industriearbeitsplätzen aus. Bereits heute aber sind in etlichen Industriebetrieben Forschung, Entwicklung und Marketing wichtiger geworden, als die Zahlenwerke glauben machen. Wie sich das Gebiet angesichts der wirtschaftlichen Globalisierung in Zukunft weiterentwickeln wird, ist eine komplexe Frage. Eines steht für Bott dabei fest: „Stuttgart bleibt ein Technologiestandort, die Aufgabenteilung in der Wirtschaft wird aber eine andere sein.” Möglicherweise werden am Neckar bald nur noch die Endmontage und das Finishing von Produkten stattfinden, die auf dem Weltmarkt bezogen wurden. 
Einen Vorgeschmack auf die denkbaren Entwicklungen gibt eine digitale Videopräsentation, die am Lehrstuhl derzeit erstellt wird. Dort plätschert zunächst der Neckar lieblich durch die Talaue, die sich dann wahlweise in ein Industriegebiet, in Präsentationsflächen oder in einen Freizeitpark verwandeln. In einem der drei Parallelszenarien nutzen kleinere, vernetzte Entwicklungs- und Forschungsfirmen, Designerschmieden und Marketingagenturen frei werdende Flächen. Teile des wertvollen citynahen Geländes werden zu Show-Rooms. „Das Neckartal wird zu einem attraktiven Schaufenster, in dem sich die Technologieregion präsentiert”, glaubt Bott.

Interkultureller Schmelztiegel
Ganz anders gingen die Mitarbeiter des Städtebau-Instituts an das Problemfeld Migration heran, das am Beispiel des Stadtteils Bad Cannstatt untersucht wird. Das kleinstädtisch geprägte Viertel mit einem Ausländeranteil von 30 Prozent gilt schon heute als interkultureller Schmelztiegel. Integration funktioniert in einem solchen Milieu anders als etwa im Stuttgarter Westen: Während in der Großstadt Kultur und Gastronomie die Nationalitäten näher zueinander bringen, spielen in Cannstatt Nachbarschaftskontakte die entscheidende Rolle.
Klassische städtebauliche Lösungen wie etwa die Ausweisung von Sanierungsgebieten reichen daher nicht aus, um der Probleme Herr zu werden. „Benachteiligte Gruppen müssen die Attraktivität ihres Stadtteils entdecken und an dessen Entwicklung partizipieren,” glaubt Projektleiter Axel Fricke. Dazu setzen die Institutsmitarbeiter in den Schulen an. Gemeinsam mit den Jugendlichen spüren sie kulturübergreifenden Cannstatter Themen wie zum Beispiel dem Wasser in der alten Bäderstadt nach und besuchen öffentliche Räume wie den Wilhelmsplatz. Am Ende entsteht ein virtueller Stadtführer, in dem ein jugendlicher Migrant, ein Stadtplaner, ein alteingesessener Cannstatter und eine blinde Frau das Quartier aus ihrem jeweiligen Blickwinkel schildern.

Praxisnahe Lehrveranstaltungen
Dass Stadt, Region und Uni im Rahmen des Wettbewerbs Stadt 2030 so eng zusammenarbeiten, ist eine Stuttgarter Besonderheit. Für die Studierenden erwächst daraus die Chance zu praxisnahen Veranstaltungen, bei denen sie, wie etwa im Seminar „Sozialgeographische Stadtforschung” am Institut für Geographie, ganz konkret erfahren, welche Probleme aus der Konzentration bestimmter Bevölkerungsgruppen erwachsen. Und am Städtebau-Institut formulierten die Studenten selbst, wie sie sich Stuttgart in 30 Jahren vorstellen: Dann, so eine der augenzwinkernden Visionen, ist die City zu einem gigantischen Event-Center mutiert, und auf der Straße liegen Chips, auf denen die Gefühle der Menschen gespeichert sind.

Andrea Mayer-Grenu

Kontakt
Städtebau-Institut, Keplerstr. 11, 70174 Stuttgart,
Prof. Helmut Bott, Prof. Johann Jessen, Axel Fricke, 
Tel. 0711/121-3360, -2213, -3336; 
Fax 0711/121-3225, 
e-mail: helmut.bott@si.uni-stuttgart.de
johann.jessen@si.uni-stuttgart.de
, axel.fricke@si.uni-stuttgart.de und 
Institut für Geographie, Azenbergstr. 12, 70174 Stuttgart,
Dr. Susanne Albrecht, 
Tel. 0711/121-1456, 
Fax 0711/121-1455 


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Pressestelle der Universität Stuttgart

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