Home           Inhalt           Suchen

Stuttgarter unikurier Nr. 90 November 2002
Forschungsschwerpunkt Systembiologie:
Leben als System
 

Der Senat der Universität Stuttgart hat in diesem Frühjahr der Einrichtung eines neuen interfakultativen Forschungsschwerpunkts Systembiologie zugestimmt. Die Universität Stuttgart nimmt infolge der engen Zusammenarbeit von Natur- und Ingenieurwissenschaften bereits seit mehreren Jahren eine führende Stellung auf diesem Gebiet ein. Der Schwerpunkt möchte von der Analyse einzelner Komponenten eines biologischen Systems zu einem ganzheitlichen Systemverständnis kommen und den Schritt von einer qualitativ beschreibenden zu einer quantitativen, theoriebasierten und prädiktiven Biologie vollziehen. Aus dem Stuttgarter Schwerpunkt heraus wurden bereits zwei Verbundprojekte beim Förderschwerpunkt „Systeme des Lebens - Systembiologie” des Bundesforschungsministeriums beantragt. Zum einen das Projekt „Systembiologie Leber-relevanter Interaktionen von Metabolismus, Signaltransduktion und Zellzyklus” unter der Koordination von Prof. Dr.-Ing. Ernst Dieter Gilles sowie das Projekt „Systembiologische Analyse von Fremdstoffabbau und Dedifferenzierungsprozessen in Hepatocyten” unter der Koordination von Prof. Dr.-Ing. Matthias Reuss.

kleinbal.gif (902 Byte)
 

Die Zellbiologie hat in den vergangenen Jahren große Fortschritte erzielt. Inzwischen können zahlreiche Erkrankungen genetisch erklärt, aber immer noch nicht bekämpft werden. Kann die Erforschung des menschlichen Genoms nicht mehr zum Entwurf spezifische Medikamente beitragen? In einigen Fällen gelingt dies, doch oftmals hängt die Problemstellung nicht direkt von der Struktur eines einzelnen Gens ab, sondern vom Zeitpunkt der Aktivität beziehungsweise der Interaktionen dieses Gens mit anderen. Die biologische Forschung der vergangenen Jahre hatte sich eher auf das molekulare Detail und auf eine qualitative Analyse der zellulären Prozesse konzentriert. Das Verstehen der Gene und Interaktionen von Genen, Proteinen und der Umwelt bedarf hingegen eines ganzheitlichen Verständnisses der Zelle, wie ihn die Systembiologie erstrebt.


Systembiologie: Interdisziplinäre Zusammenarbeit der 
Forschungsrichtungen Biologie, Informatik und 
Systemwissenschaften (inklusive Physik).

Ganzheitlicher Ansatz
Die Systembiologie verfolgt diesen ganzheitlichen Ansatz in der Zellbiologie, der auch als ein kybernetischer Ansatz verstanden werden kann. Die Hauptfragen der Systembiologie sind: Wie funktionieren Zellen und wie interagieren sie mit ihrer Umgebung? Wie sind Zellfunktionen in den Genen oder ihren Wechselwirkungen kodiert? Um Fragen dieser Art beantworten zu können, ist eine enge Kooperation von Biologen, Chemikern und Systemwissenschaftlern nötig. Weltweit gibt es bisher noch sehr wenige Zentren für die Systembiologie, eines der ältesten ist an der Universität Stuttgart. Das Anfang der 90er Jahre gegründete Zentrale Schwerpunktprojekt (ZSP) Bioverfahrenstechnik ist das bundesweit größte geförderte Einzelvorhaben in der Biotechnologie. 
Daran sind biologische und verfahrenstechnische Institute beteiligt. Der neu gegründete Forschungsschwerpunkt „Systembiologie” der Universität Stuttgart knüpft hieran an. Eine solche Zusammenarbeit findet sich weltweit nur vereinzelt, zum Beispiel in den USA am Institute for Systems Biology in Seattle oder am California Institute of Technology (Caltech) in Pasadena.

Dynamik
Inzwischen stehen viele Informationen über Gene und Proteine in öffentlich zugänglichen Datenbanken zur Verfügung. Um zu verstehen, wie Zellen funktionieren, reicht das Wissen über die Beschaffenheit der Einzelteile aber nicht aus, genauso wenig wie das Fahrverhalten eines Autos aus der Liste der Bestandteile ermittelt werden kann. Dazu ist es nötig, die Interaktionen zwischen ihnen zu kennen. Dabei kommt in vielen Fällen der Dynamik eine große Bedeutung zu. So reagieren Zellen etwa unterschiedlich auf Wachstumsfaktoren, je nachdem, wann sie zuletzt damit stimuliert worden sind. Das genaue Verständnis dieses Zellverhaltens ist aber wichtig, um die Zellvermehrung, insbesondere bei Tumoren, besser verstehen zu können. Das Untersuchen und Verstehen dynamischer Systeme ist eines der Kerngebiete der Systemwissenschaften, die in der Systembiologie ihr Wissen mit Biologen teilen, um gemeinsam die Zellen besser verstehen zu können.

Reduktion der Komplexität
Ein weiteres Forschungsgebiet der Systembiologie ist die Interaktion der verschiedenen Zellebenen Genom, Transkriptom, Proteom, usw. Das Genom ist die Gesamtheit aller Gene und befindet sich meistens auf der DNA-Doppelhelix, die in jeder Zelle vorhanden ist. Jedes Gen enthält den Code für genau ein Eiweißmolekül (ein so genanntes Genprodukt). Wann welches Gen repliziert wird, bestimmen die Transkriptionsfaktoren, die wiederum von intra- und extrazellulären Proteinen beeinflusst werden. Dies ist ein hochgradig regulierter und optimierter Prozess. Die Systembiologie leistet einen Beitrag, die komplexen Strukturen zu verstehen, indem sie in einfachere Einzelteile zerlegt werden.

Mathematische Modellierung
Um die Fülle an komplexen Verhaltensweisen quantitativ beschreiben zu können, ist eine mathematische Modellierung hilfreich. Der Modellierungsvorgang ist als iterativer Prozess zu verstehen, der dafür sorgt, dass das Verhalten der Modellwelt möglichst weitgehend gegen das der realen Welt konvergiert. Modellierung erfordert daher stets eine sorgfältige Evaluierung aller Annahmen und Hypothesen durch das biologische Experiment. Das Ziel ist hierbei die Entwicklung einer virtuellen Repräsentation von Zellen wie auch von ganzen Organismen. Damit lassen sich dann in Analogie zu Experimenten an realen biologischen Systemen virtuelle Experimente durchführen. Damit wird es erst möglich, das gesammelte Wissen für Vorhersagen zu nutzen, wie sie zum Beispiel für die moderne Pharmaforschung benötigt werden.

Systembiologie in der Lehre
Neben der Forschung auf dem Gebiet der Systembiologie gehört die Universität Stuttgart zu den wenigen Hochschulen weltweit, die auf diesem Gebiet Studenten ausbilden. Die Studierenden kommen dabei sowohl von der Biologie (Studiengang Technische Biologie) wie auch von den Ingenieurswissenschaften (Technische Kybernetik und Verfahrenstechnik). Die angebotene interdisziplinäre Ausbildung bereitet die Studierenden ideal für das gerade expandierende Gebiet der Systembiologie vor. /eng

Kontakt
Prof. Dr.-Ing. Frank Allgöwer; Prof. Dr.-Ing. Ernst Dieter Gilles, Prof. Dr. Klaus Pfizenmaier; 
Tel. 0711-685-7733/7734
Fax 0711-685-7735
e-mail: allgower@ist.uni-stuttgart.de
http://www.ist.uni-stuttgart.de

 


last change: 25.11.02 / gh
Pressestelle der Universität Stuttgart

Home           Inhalt           Suchen