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Stuttgarter unikurier Nr. 89 April 2002
Untersuchungen zur öffentlichen Sicherheit in Südwestdeutschland:
Zur Geschichte der organisierten Kriminalität
 

Formen der organisierten Kriminalität gelten heute als gravierende Herausforderungen der staatlichen Rechtsordnung und stehen im Blickpunkt der öffentlichen Wahrnehmung. Am Historischen Institut der Universität Stuttgart ist im Februar diesen Jahres eine Forschungsarbeit mit der Habilitation abgeschlossen worden, die sich mit der organisierten Kriminalität vergangener Jahrhunderte befaßt. 

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Zu Beginn wird beschrieben, warum das Phänomen der organisierten Kriminalität (OK) nicht erst in der Gegenwart erscheint. Tatsächlich ist der Begriff der OK längst von den Historikern aufgegriffen worden; es hat Formen der OK ohne Zweifel auch in vergangenen Jahrhunderten gegeben. Die Studie arbeitet zunächst die Struktur der Täter heraus. Es handelte sich um ein ausgesprochen komplexes Täterbild. Eine große Rolle spielten die vagierenden Kriminellen, die „Jauner“ (nicht: Gauner!) die als Heimatlose über die Straßen zogen und mit einem Gemisch aus Gelegenheitsarbeit und Kriminalität - meist Markt- oder Einbruchsdiebstahl - versuchten, ihr kärgliches Dasein zu fristen. In der kalten Jahreszeit krochen die Jauner meist bei Bauern unter, um mit dem Beginn des Frühjahrs wieder auf Tour zu gehen. Ein ausgedehntes Umfeld von Gastwirten, Hehlern und Unterkunftgebern reichte weit in die sogenannte „ehrbare“ Gesellschaft hinein, ja es zeigt sich, dass die größte kriminelle Energie nicht selten keineswegs von den eigentlichen Vagierenden kam, sondern insbesondere von den Wirten und Hehlern, die mit der billig aufgekauften Beute glänzende Geschäfte machten. Insbesondere in abgelegenen, armen Gegenden reichte das Umfeld der Kriminalität bis in den Kreis der Beamten hinein, die durch Wegsehen und Dulden krimineller Machenschaften oder gar aktive Mitarbeit ihr kärgliches Gehalt aufzubessern suchten. Gegen nicht kooperationswillige Sesshafte gingen die Jauner mit einem wirksamen Druckmittel vor: Sie drohten mit Brandstiftung (und führten diese bei Bedarf auch durch). Die Kriminalität war in den seltensten Fällen im Form fest strukturierter Banden organisiert, vielmehr handelte es sich meist um ein Netz kleiner und kleinster Gruppen. Sie waren für die Behörden viel schwerer zu fassen als große Banden, und im Bedarfsfall konnten sich die Kleingruppen bei lohnenden Coups rasch zu größeren Einheiten zusammenschließen, die sich nach erfolgter Tat ebenso rasch wieder zerstreuten. Neben den auf Diebstahl und Einbruch spezialisierten Gruppen nahmen die Straßenräuber, die Überfälle durchführten, eine Sonderposition ein; gefürchtet waren die Posträuber, deren Überfälle in den Jahrzehnten um 1750 eine besondere Intensität erreichten. Fälscher- und Betrugs-Sammlergruppen zogen jährlich namentlich von Fürth aus, das einen weithin bekannten Ruf als Heimat derartiger Gruppen hatte, über Land und waren besonders professionell organisiert. 
Weitere Teile des Täter-Kapitels widmen sich der Gesundheit, der Religiosität, dem sozialen Leben, der demographischen Struktur der Jauner und deren Berufsstruktur. Trotz oft dramatischer Krankheiten wich die Lebenserwartung der Vagierenden nicht merklich von der sesshafter Bevölkerungsteile ab. Auffällig sind die zahlreichen Spuren von Gewalttätigkeiten, also insbesondere Narben. Bei den Berufen, die tatsächlich oder angeblich ausgeübt wurden, fällt besonders die Mehrberufigkeit auf, um - meist in Kombination mit kriminellen Aktivitäten - ein Subsistenzminimum zu erwirtschaften. Es verwundert nicht, dass - modern gesprochen - Arbeitslosigkeit und desolateste materielle Verhältnisse der Nährboden für Kriminalität waren.
Danach werden die staatlichen Maßnahmen gegen die organisierte Kriminalität thematisiert. Diese Maßnahmen waren durch die extreme territoriale Zersplitterung Südwestdeutschlands stark behindert, und die Jauner verstanden es meisterhaft, im Hin- und Herspringen zwischen den zahlreichen Grenzen die einschlägigen Aktivitäten zu konterkarieren. Der Schwäbische Kreis als übergeordnete Institution bemühte sich zwar, die Fahndungsmaßnahmen zu koordinieren, war dabei aber nur bedingt erfolgreich. Insbesondere kleine Territorien mit wenig ausgeprägter Staatlichkeit waren bevorzugte Aufenthaltsgebiete der Jauner. Die konkreten Fahndungsmaßnahmen und deren Entwicklung werden genau dargestellt: Streifen, Fahndungslisten, Entstehung von Vorformen der Polizei und deren allmähliche Emanzipation vom Militär, das für die äußere Sicherheit zuständig war. Dabei wird deutlich, was den modernen Staat überhaupt ausmacht - denn die Gewährleistung innerer Sicherheit und der Anspruch, abweichendes Verhalten zu definieren und zu ahnden ist und bleibt bis heute zentrale Aufgabe und Ziel des Staates. Zugleich erscheint der Staat des Absolutismus zwar als imponierend im Anspruch seiner Gesetze und Anordnungen, aber mehr als beschränkt in seiner Fähigkeit, diese auch durchzusetzen.
Waren die Jauner gefangen, begann das Untersuchungs- und Strafverfahren, dem das letzte Kapitel der Untersuchung gewidmet ist. Zwar gab es mit der Peinlichen Halsgerichtsordnung von 1532 theoretisch ein einheitliches Verfahrensrecht, doch war in der Praxis dessen Ausgestaltung in den einzelnen Territorien höchst unterschiedlich. Württemberg als Territorium mit hoch entwickelter Staatlichkeit erfüllte auch nach heutigen Maßstäben weithin rechtsstaatliche Normen: Die Folter wurde in der zweiten Hälfte des 18. Jh. konsequent abgeschafft, die Todesstrafe kaum noch verhängt, schwierige soziale Verhältnisse der Täter durchaus als Milderungsgründe anerkannt; dabei kommt ausgerechnet dem im heutigen Bewusstsein oft negativ gezeichneten Herzog Carl Eugen ein hervorragendes Verdienst zu. Man wird sein allzu finsteres Bild korrigieren müssen. Kleinterritorien handhabten demgegenüber ihre Verfahren zum Teil geradezu hemdsärmelig, und einzelne katholische Klosterherrschaften waren noch nach 1750 stolz darauf, von der Aufklärung unbeleckt zu sein, und rühmten sich, noch immer die Maßstäbe aus der Zeit der Hexenverfolgung anzuwenden. Die in den letzten Jahrzehnten (z. B. angesichts des dezentralen kulturellen Reichtums) oft sehr positiv gesehene Realität der territorialen Zerstückelung wird vor diesem Hintergrund neu zu überdenken sein.
Ein umfassender Quellen- und Materialienband, der nicht zuletzt die einschlägige Gesetz- und Verordnungsgebung des Untersuchungszeitraums enthält, rundet die Darstellung ab.

Gerhard Fritz: Untersuchungen zur öffentlichen Sicherheit in Südwestdeutschland, vornehmlich in Württemberg, vom Ende des Dreißigjährigen Krieges bis zum Ende des Alten Reiches. Organisierte Kriminalität, staatliche Polizeimaßnahmen, Recht und Rechtspflege. Habil. Stuttgart 2001, 2 Bde. (1. Darstellung, 2. Quellen und Materialien), 659 und 476 S.

 


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Pressestelle der Universität Stuttgart

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