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Stuttgarter unikurier Nr. 89 April 2002
Damit den Pfeifen nicht die Luft ausgeht: 
Atemtherapie für die Königin der Instrumente
 

Man muß nicht sofort auf den Organisten schießen, wenn der Ton mal schräg von der Empore klingt. Kirchenbesucher, die einem feierlichen Orgelkonzert lauschen, denken in den seltensten Fällen an 
aerodynamische Probleme, wenn die Orgel in Höhe oder Lautstärke unregelmäßig klingt. Solche Missklänge entstehen aber, wenn der Luftdruck im Atemapparat der Königin der Instrumente schwankt oder gar schwingt. Das ehrwürdige Kunsthandwerk des Orgelbaus hat seit fünf Jahrhunderten daran gearbeitet, diese Unregelmäßigkeiten weitgehend zu vermeiden. Doch bis heute gibt es nur empirische Regeln, um die Einzelteile zur Tonerzeugung in der Orgel ausreichend zu dimensionieren und aufeinander abzustimmen. Und da jede große Orgel ein Unikat ist, müssen diese Regeln immer wieder modifiziert werden. Orgelbauer waren bislang allein auf ihre Erfahrung angewiesen - mit einigem Fehlerrisiko. Unterstützung erfahren sie nun durch ein elektronisches Werkzeug, das unter der Federführung einer Wissenschaftlerin der Universität Stuttgart entwickelt wurde.

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Judit Angster, die aus einer Orgelbauerfamilie stammt und als Physikerin an der Universität lange über akustische Orgelforschung gearbeitet hat, hatte die Leitung bei der Cooperative Research Action for Technology (CRAFT) der EU, die Ende des vergangenen Jahres erfolgreich abgeschlossen wurde. Neben zwölf Orgelbauern aus ganz Europa beteiligten sich daran das Fraunhofer-Institut für Bauphysik IBP, die Fachhochschule Ostfriesland und die Universität Edinburgh.
Die Puste einer Orgel erzeugt ein Gebläse. Der richtige „Winddruck“ für die Pfeifen wird in einem Balg eingestellt, der ein variables Volumen hat. Die Luft strömt durch einen verwinkelten Windkanal, steuerbare Tonventile und schließlich durch die Pfeifen. „Bei plötzlichen Lastwechseln, bedingt durch sich öffnende oder schließende Ventile,“ erläutert Dr. Judit Angster, „reagiert der Balg auf die Änderung des Luftverbrauchs zeitlich verzögert. Solche Schwankungen können sich bis zu den Pfeifen fortpflanzen und zu unschönen Mißklängen führen.“
Deutschland ist auf dem Gebiet des Orgelbaus weltweit führend. Rund 200 Orgelbaufirmen gibt es bundesweit, davon sitzen etwa 50 Unternehmen in Baden-Württemberg. Orgelbauer, Organisten und Orgelfreunde aus der ganzen Welt kommen zu Vorträgen und Laborbesuchen nach Stuttgart. Zuletzt fand im Januar 2002 ein Intensivkurs zur Orgelakustik für Leute aus der Praxis unter der Leitung von Judit Angster am Institut für Bauphysik statt.
Mit dem gesammelten Erfahrungsschatz der Orgelbautradition und präzisen akustischen Messungen entwickelten Judit Angster und ihre Kollegen eine Software, mit der neue Windsysteme punktgenau geplant werden können. Die Software ist in der Lage, das komplexe Zusammenspiel der zahllosen Einzelteile zu simulieren ebenso wie die damit erzeugten strömungsmechanischen Abläufe. Je nach gewünschter Abklingzeit und Größe der zulässigen Druckschwankung liefert das Programm Werte, wie groß Balg und Rollventile für einen ungetrübten Hörgenuss ausgelegt werden müssen. Auch das Windssystem einer über viele Jahre regelmäßig gespielten Orgel kann mit Hilfe der Software überprüft und nach Korrektur der Abweichungen in ihrem Klang verbessert werden.

Stuttgarter Stiftskirche
Auch die Stuttgarter Stiftskirche wird in den nächsten Jahren im Zuge der seit 1999 laufenden Renovierungsmaßnahmen wieder eine neue Orgel erhalten. Insgesamt soll die neue Orgel 77 Register mit 5109 Pfeifen zuzüglich einiger Glocken haben. Bei den derzeit laufenden Planungen für das neue Instrument bei der Leonberger Firma Mühleisen kommt die Stuttgarter Software mit zum Einsatz. „Durch die wissenschaftlich ermittelten Optimierungen sollen die Entwicklungskosten gesenkt werden“, sagt Konrad Mühleisen. Er geht jedoch davon aus, das die moderne Softwareunterstützung die Erfahrung der Tradition keinesfalls ersetzen kann. /eng

KONTAKT
Dr. Judit Angster, 
Tel. 0711/970-3405, 
Fax 0711/970
e-mail: angster@ibp.fraunhofer.de

 


last change: 29.04.02 / gh
Pressestelle der Universität Stuttgart

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