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Stuttgarter unikurier Nr. 88 Dezember 2001
Die Relevanz der Unterscheidung zwischen Embryonen und Präembryonen:
Embryo und menschliche Würde
 

Die gegenwärtige Diskussion um die Verwendung menschlicher embryonaler Stammzellen leidet darunter, daß die Unterscheidung zwischen Embryonen und Präembryonen nicht ausreichend berücksichtigt wird. Unter einem Embryo (in diesem Beitrag geht es ausschließlich um menschliche Embryonen) verstehe ich einen neuen Menschen. Von einem solchen neuen Menschen kann nur die Rede sein, wenn es eine Einheit gibt, die sich durch alle Veränderungen hindurch als der Mensch entwickeln kann, der, wenn alles normal verläuft, einmal geboren werden wird. Es muß deshalb möglich sein, von einem Neugeborenen zu sagen, daß es einmal ein Embryo war. Und so wie wir sagen können, daß wir einmal ein Neugeborenes waren, können wir auch sagen, daß wir einmal ein Embryo waren. Meine These ist nun, daß kein Mensch je eine Zygote bzw. eine „befruchtete Eizelle“ war, und zwar ebenso wenig wie je ein Mensch eine Samenzelle oder eine Eizelle war. Niemand von uns war einmal eine Zygote. Aber es gab jeweils eine Zygote, aus der über verschiedene Entwicklungsschritte der Embryo hervorgegangen ist, der wir einmal waren. Selbst wenn also ein Embryo von Anfang an im normativen Sinne Würde besitzt, weil es sich bei ihm um einen neuen Menschen handelt, kommt einer Zygote keinesfalls Würde zu. (Bei dem Beitrag handelt es sich um die für den Uni-Kurier überarbeitete und gekürzte Fassung des Schlußteils des Habilitationsvortrages des Autors.)

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Wie kann meine These begründet werden? Die These, daß eine Zygote noch nicht der Embryo ist, gründet sich auf eine philosophische, näherhin auf eine ontologische Interpretation naturwissenschaftlicher Fakten. Jede Aussage über den ontologischen Status einer Zygote, also auch die, welche das Gegenteil meiner These behauptet, beruht zumindest implizit auf einer solchen Interpretation. Es wäre ein Mißverständnis zu meinen, daß es sich dabei um naturwissenschaftliche Aussagen handelt.
Eine Begründung für meine These hat schon eine längere Tradition. Sie besteht im Verweis auf die Möglichkeit der Zwillingsbildung. Eineiige Zwillinge können dadurch entstehen, daß sich die beiden Blastomere nach der ersten Teilung einer Zygote voneinander trennen und jeweils unabhängig voneinander weiterentwickeln. Die meisten eineiigen Zwillinge entstehen aber dadurch, daß es zu einer Trennung der inneren Zellmasse einer Blastozyste kommt. In seltenen Fällen kommen eineiige Zwillinge auch dadurch zustande, daß noch eine Teilung der zweiblättrigen Keimscheibe bis kurz vor Ausbildung des Primitivstreifens erfolgt (die etwa am 14. Tag nach der Befruchtung einsetzt).
Es ließe sich näher zeigen, daß vor einer solchen Abtrennung noch nicht jene Einheit gegeben sein konnte, die sich durch alle Veränderungen entwickelt und durchhält. Aber man könnte einwenden, daß man von den Fällen, in denen die Zwillingsbildung erfolgt, nicht schon auf jene Mehrheit der Fälle zurückschließen kann, in denen sie nicht erfolgt. Die Tatsache, daß die Zwillingsbildung nicht erfolgt, könnte für sich genommen gerade als Indiz dafür gewertet werden, daß sehr wohl schon jene sich entwickelnde Einheit gegeben ist.
Ich will deshalb einen weiteren Gesichtspunkt herausstellen, auf den ich durch einen 1988 publizierten Aufsatz des australischen Philosophen Stephen Buckle aufmerksam wurde, auch wenn ich ihn anders entwickeln und begründen werde als Buckle. Aus der Zygote gehen nicht nur der Embryo hervor, sondern auch die Chorionhöhle, die Plazenta, die Dottersäcke und die Amnionhöhle. Diese Gewebe sind vom Embryo zumindest zum Teil different und können zumindest zum Teil nicht als Hervorbringungen des Embryos verstanden werden. Dies zeigt, daß die ersten Stadien der Entwicklung nach der Bildung einer Zygote noch nicht die Entwicklung einer sich durchhaltenden Einheit sind. Ich will dies näher für den Übergang vom Morula- zum Blastozystenstadium zeigen.

Schematische Darstellung der Embryonalentwicklung. Stadium A:
Alle Zellen berühren die Außenhülle; Stadium B (Morula-Stadium):
Zellen im Inneren haben keinen Kontakt zur Außenhülle; Stadium C
(Blastoszysten-Stadium): Differenzierung zwischen dem
Trophoblasten (D) und der inneren Zellmasse (E).

Etwa drei Tage nach der Befruchtung liegt eine Morula genannte Zellkugel von etwa 12-16 Zellen vor. Während sich diese Zellen weiter teilen, kommt es zwischen den Zellen der Zellkugel zu einer Differenzierung. Die Zellen, die zur Außenfläche der Kugel gehören, entwickeln sich zum Trophoblasten, der einmal die Chorionhöhle umgrenzen wird, in der sich der Embryo in den ersten Wochen entwickelt. Diejenigen Zellen, die ganz in der Zellkugel eingeschlossen sind, entwickeln sich zur inneren Zellmasse, auch Embryoblast genannt. Die Zellen der inneren Zellmasse lagern nach der Bildung der flüssigkeitsgefüllten Blastozystenhöhle in einer Region der Innenseite des Trophoblasten auf. Die Zellen der inneren Zellmasse sind die embryonalen Stammzellen, um die gegenwärtig gestritten wird. Trophoblast und innere Zellmasse sind von einander different. Dies zeigt sich schon daran, daß die Zellen der inneren Zellmasse keine Trophoblastzellen zu bilden vermögen und umgekehrt. Vor allem aber macht die weitere Entwicklung deutlich, daß der Trophoblast etwas vom Embryo klar Verschiedenes ist. Als Kandidat, den Embryo darzustellen, käme allenfalls die innere Zellmasse in Betracht.
Unterscheiden wir folgende Stadien: In Stadium A liegt eine Zellkugel vor, in der noch alle Zellen Kontakt zur Außenfläche der aus den Zellen gebildeten Kugel haben. In Stadium B gibt es erste Zellen, die von anderen Zellen der Zellkugel ganz eingeschlossen sind. In Stadium C liegt eine Differenzierung zwischen den Zellen im Inneren und den Zellen mit Außenkontakt vor. Man könnte sagen, daß A sich zu B entwickelt hat, aber man kann nicht sagen daß B sich zu C entwickelt hat. Denn es trifft nicht zu, daß B sich einfach zu E (der inneren Zellmasse) entwickelt hat. B kann sich auch nicht zu D (Trophoblast) und E entwickelt haben, da D und E keine Einheit darstellen, die sich als Einheit entwickelt. Man wird eher sagen müssen, daß D und E (und folglich auch C) aus B hervorgegangen sind. Es folgt, daß auch dann, wenn die innere Zellmasse E der Embryo wäre, A und B der Embryo nicht waren.

Dies hat mindestens zwei weitreichende Konsequenzen: 1. Der Embryo entsteht gegenüber der Zygote erst nachträglich. Es ist deshalb zu fragen, ab wann frühestens mit ihm zu rechnen ist. Nichts nötigt uns dazu, von vornherein davon auszugehen, daß etwa die innere Zellmasse bereits der Embryo ist. 2. Wir besitzen ein unabhängiges Argument dafür, daß die Zwillingsbildung über das konkrete Ereignis hinaus zeigt, daß noch keine Einheit vorliegt. Entsprechend haben wir allen Anlaß, davon auszugehen, daß etwa die innere Zellmasse, durch deren Aufteilung am häufigsten Zwillinge entstehen, noch nicht der Embryo ist. Ich komme deshalb zu dem Ergebnis, daß in der gegenwärtig hitzig geführten Debatte um embryonale Stammzellen zum Teil von falschen Voraussetzungen ausgangen wird. 

K. Steigleder

Kontakt
Dr. Klaus Steigleder, Abteilung Philosophie, Universität Stuttgart, Dillmannstr. 15, 70193 Stuttgart
Tel. 0711/121-1418
e-mail: Klaus.Steigleder@po.uni-stuttgart.de

 


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Pressestelle der Universität Stuttgart

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