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Stuttgarter unikurier Nr. 86 September 2000
Physik auf schnellen Rechnern:
Wozu sind Computerexperimente gut?
 

Man stelle sich vor, es gäbe ein Mikroskop (oder Makroskop), mit dem man auf beliebigen Längen- und Zeitskalen in die Materie und die Prozesse der Natur hineinschauen könnte. Man könnte damit ebenso die Atome in Kristallen oder Quasikristallen „sehen“ wie die Bahn chemischer Moleküle und Schwebeteilchen im Blut verfolgen. Man könnte Mikrorisse in Flugzeugteilen beobachten, um den Versagenszeitpunkt vorherzusagen, oder man könnte Grundwasser fließen sehen und die Lagerstätten von Erdöl und anderen Bodenschätzen aufspüren. Gibt es ein solches raumzeitliches Mikro-/Makroskop?

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Die Antwortet lautet ja, aber nur für die „virtuelle Realität“. Das Mikro-/Makroskop ist der Computer. In allen Natur- und Ingenieurwissenschaften haben sich in den letzten Jahrzehnten eigene Forschungsgebiete um den Computer herum gebildet. In der Physik ist dies die Computerphysik oder „Physik auf schnellen Rechnern“. Forschungsgegenstand der Physik auf schnellen Rechnern ist die Durchführung realistischer Computerexperimente. Was ist damit gemeint?

Virtuelle Realität
Unter Computerexperimenten versteht man, grob gesagt, die Nachbildung realer Experimente im Computer, also die simulierte Durchführung von Experimenten in der vieldiskutierten „virtuellen Realität“. So wie im Maschinenbau Brennkammern, Motoren oder ganze Fahrzeuge „simuliert“ werden, so bildet man auch physikalische Experimente in Computern nach. „Nachbilden“ oder „simulieren“ bedeutet dabei meistens „numerisches Auffinden komplizierter Lösungen von theoretischen Gleichungen und Algorithmen“, denn ein Computer ist ja „nur“ eine Rechenmaschine. Das Rechenergebnis, also die Vorhersage der Theorie, wird dann als virtuelle Realität visualisiert.

Simulation und Experiment
Ziel der Computerexperimente in der Physik ist dabei die fortschreitende Verbesserung der Theorien durch Vergleich der berechneten Vorhersagen mit dem Experiment. Diese Verbesserung der Theorie wiederum ist gleichbedeutend mit einer fortschreitenden Annäherung der virtuellen an die experimentelle Realität. Schon heute enthalten die Theorien der Physik eine schier unendliche Vielfalt an phantastisch detailgetreuer „virtueller Realität“. Dies wird in vielen technischen Errungenschaften (vom Elektronenmikroskop über Funk und Telekommunikation bis zur Raumfahrt) ausgenutzt. Immer häufiger werden deshalb sogar schon Computerexperimente einem realen Experiment im Labor aus Gründen der Zeit- und/oder Kostenersparnis vorgezogen. Besonders auffällig ist dies in industriellen Entwicklungslaboratorien. In Zukunft werden sich deshalb aller Voraussicht nach Laborexperimente und Computerexperimente immer mehr gegenseitig ergänzen.
Es ist klar, daß auch die Universität Stuttgart in diesem zukunftsträchtigen Gebiet einen Forschungsschwerpunkt setzt. Drei Beispiele aus der aktuellen Stuttgarter Forschung sollen dies verdeutlichen.
Das Ganze die Summe der Teile?

Im ersten Beispiel geht es um die Frage: Was sind die Eigenschaften einer Mischung, wenn man die Eigenschaften der Bestandteile kennt? Dieses uralte Problem (es hat schon Empedokles, Maxwell und auch Einstein beschäftigt) ist von enormer praktischer Bedeutung für viele Anwendungen, wie etwa die Entwicklung verbesserter Kunststoffe oder für die Vorhersage der Durchlässigkeit poröser Sandsteine in der Erdölproduktion. Die Abbildung links zeigt den typischen Porenraum eines Sandsteines, wie er in Erdöllagerstätten vorkommt. Die Komplexität des Porenraumes, die hier deutlich wird, macht die analytische Vorhersage von Erdöl-, Gas- und Wassertransport sehr schwierig. Andererseits sind Sandsteine im Labor nicht durchsichtig, und dies erschwert die Vorhersagen mit Laborexperimenten. Erst die Computerexperimente mit schnellen Rechnern ermöglichen die detaillierte Berechnung und Vorhersage von Strömungen und sonstigen Transportprozessen in derart komplizierten Geometrien. Mit Hilfe aufwendiger Simulationsverfahren wurden die theoretischen Gleichungen auf den in Stuttgart vorhandenen Hochleistungsrechnern gelöst. Dabei wurde unter anderem entdeckt, daß einige seit Jahren in der theoretischen Literatur benutzte vereinfachte Modelle unhaltbar sind.

Strömungen
Wenn Blutgerinnsel eine Ader oder Paraffinklumpen eine Treibstoffleitung verstopfen, so ist der physikalische Mechanismus in beiden Fällen ähnlich. Die Strömung der umgebenden Flüssigkeit sorgt dafür, daß sich die Schwebeteilchen treffen und zu einem größeren Konglomerat aggregieren können. Computersimulationen dienen hier dazu, das Verständnis dieser Vorgänge zu vertiefen und so Kontrolle über diese Vorgänge zu gewinnen. Neben der Bewegung der Aggregate und Schwebeteilchen muß natürlich auch die Bewegung der Flüssigkeit in deren Zwischenräumen genau verfolgt werden können. Die Abbildung rechts (Aggregation von Teilchen in einer Flüssigkeit) zeigt eine Simulation mit ca. 1000 Teilchen. In dunklen Gebieten bewegt sich die Flüssigkeit im Vergleich zu den Teilchen sehr schnell, in den hellen Gebieten fast gar nicht. Wie im vorherigen Beispiel werden viele Beobachtungen auch hier erst durch aufwendige Computerexperimente möglich. Um den Rechenaufwand zu verdeutlichen: Wollte man solche Strömungen in drei Dimensionen mit etwa 1000x1000x1000 Punkten auflösen - in einer Ebene entspricht das etwa einer guten Bildschirmauflösung -, so benötigen gängige Lösungsverfahren dafür einen Speicherbedarf von 2x1011 bytes, dies ist die Speicherausstattung von ca. 1000 regulären PC's! Es ist klar, daß sich Probleme solcher Größenordnungen nur auf speziell dafür geschaffenen Rechnern wie der CRAY T3E des Höchstleistungsrechenzentrums in Stuttgart behandeln lassen.

Quasikristalle
Beim dritten Beispiel wird das Verhalten komplexer Festkörper mittels sogenannter Molekulardynamik-Simulationen untersucht. Dabei werden die Bewegungen der einzelnen Atome in diesem Festkörper (genauer: eines kleinen Stücks davon) numerisch berechnet, wodurch detaillierte Einblicke in die Vorgänge auf atomarer Skala gewonnen werden. Bei einem realen Experiment wäre dies in einer solchen Fülle von Details kaum möglich. Untersucht werden insbesondere dynamische Vorgänge wie Rißbildung, Bewegung von Defekten unter einer angelegten mechanischen Spannung oder Schockwellen. Die Abbildung links zeigt die Auswirkungen einer schwachen Schockwelle auf einen Quasikristall. Dies ist ein wohlgeordnetes Material, das aber aperiodisch aufgebaut ist. Zwei gleich große Klötze werden von links und rechts kommend so ineinandergerammt, daß von der Mitte aus zwei Schockwellen nach außen laufen. Eine starke Schockwelle würde die Struktur des Materials vollständig zerstören, eine schwache hingegen führt zur Anregung der im Bild dargestellten, quasikristallspezifischen Ringprozesse, bei denen auf Ringen angeordnete Atome einander nachlaufen. Auch diese Rechnungen sind sehr aufwendig und werden deshalb vorwiegend auf massiv-parallelen Rechnern des Höchstleistungsrechenzentrums Stuttgart durchgeführt.
In Zukunft plant die Universität, die Anstrengungen auf diesem Gebiet weiter zu verstärken. Ein Schritt in diese Richtung ist die geplante Gründung eines Zentrums für Simulationstechnik, in welchem die Physik auf schnellen Rechnern einen Schwerpunkt bildet.

R. Hilfer, S. Schwarzer, F. Gähler, J. Roth

KONTAKT
Priv.-Doz. Dr. Rudolf Hilfer, 
Tel. 0711/685-7607
e-mail: hilfer@ical.uni-stuttgart.de

 


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Pressestelle der Universität Stuttgart

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