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Stuttgarter unikurier Nr. 86 September 2000
Podiumsdiskussion mit EU-Forschungskommissar Busquin:
„Es muß ein europäischer Forschungsraum entstehen“
 

Für das Konzept eines gemeinsamen „europäischen Forschungsraums“ warb EU-Forschungskommissar Philippe Busquin am 5. Juni bei einer Podiumsdiskussion zum Thema „Europa auf dem Weg zur Wissensgesellschaft“ an der Universität Stuttgart. Mehr Mobilität für europäische Forscher, schnellere elektronische Netze, die Vernetzung von Centers of Excellence und die Vermeidung von Dopplungen in der Forschung sind Busquins Vorschläge zur Realisierung dieses Forschungsraums. Generell gelte es, der Wissenschaft und vor allem der Naturwissenschaft wieder ein besseres Ansehen zu verschaffen. Der hochrangige Gast war auf Einladung des Stuttgarter Europaabgeordneten Dr. Rolf Linkohr nach Stuttgart gekommen. Rund 80, im europäischen Forschungsumfeld erfahrene Zuhörer beteiligten sich an der Diskussion mit Busquin, Linkohr und Prof. Dr. Klaus R.G. Hein, dem bisherigen Prorektor Forschung, als Moderator.

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Vor der Podiumsdiskussion hatten Stuttgarter Wissenschaftler Philippe 
Busquin (rechts) einige europäische Forschungsprojekte mit Uni-Beteiligung
präsentiert, darunter im Rechenzentrum ein Projekt zum „Virtuellen
Produktdesign“. Auf unserem Foto erläutert Prof. Hein (links) in der 
Versuchsanlage des Instituts für Verfahrenstechnik und Dampfkesselwesen
dem Gast Forschungsarbeiten zur Mitverbrennung von Biomasse in 
Kraftwerksanlagen sowie zur dezentralen Wärmeerzeugung aus Biomasse.
In der Mitte die Übersetzerin, die für den reibungslosen Transfer vom 
Französischen ins Deutsche und umgekehrt sorgte. (Foto: Eppler)

Busquin skizzierte zunächst die Forschungspolitik der EU, die für das von 1998 bis 2002 laufende, 5. Forschungsrahmenprogramm 15 Milliarden Euro zur Verfügung stellt. Damit würden die Bereiche „Lebenswissenschaften“, „Informationsgesellschaft“, „Energie und Umwelt“ sowie „Neue Technologien und Werkstoffe“ gefördert. Das Rahmenprogramm entspreche 5,4 Prozent der gesamten öffentlichen Ausgaben für Forschung in Europa. Diese Gelder seien „äußerst effektiv“, da sie direkt in Projekte flössen. Aber das sei nicht die gesamte europäische Forschungspolitik. „Es muß ein europäischer Forschungsraum entstehen“, betonte Busquin, der dazu ein Konzept entwickelt hat. In den letzten Jahren haben - unabhängig vom Forschungsrahmenprogramm - die Staaten der EU zu wenig für die Forschung getan. Die Ausgaben dafür seien von 1,9 Prozent im Jahr 1990 auf jetzt 1,8 Prozent des Bruttosozialproduktes gesunken. Die USA und Japan haben im gleichen Zeitraum ihre Ausgaben erhöht. Baden-Württemberg mit 3,7 Prozent sei die Ausnahme. „Sie haben die besten Noten in Europa“, meinte er.

Höherer Stellenwert der Wissenschaft
„Dennoch“, hob Busquin hervor, „die Ausgaben für Forschung und Entwicklung in Europa sind zu gering.“ Zwar habe jeder Mitgliedsstaat noch seine eigenen Forschungsprogramme; allerdings fehle es an der Koordinierung und Abstimmung. Und er konstatierte ein kulturelles Problem, das abnehmende Interesse der Jugend an der Wissenschaft. Diese Probleme seien umso gravierender, da Wachstum und Beschäftigung durch neue Technologien und Verfahren forciert würden. Vor diesem Hintergrund entwickelte er seine Vorschläge zur Umsetzung des europäischen Forschungsraums: Mehr Mobilität für Forscher in Europa, mehr schnellere Netze, die Vernetzung von Spitzenforschungszentren, die Vermeidung von Dopplungen in der Forschung durch eine bessere Infrastruktur und Abstimmung sowie ein höherer Stellenwert der Wissenschaft, insbesondere auch der Naturwissenschaften.

Forschen aus Neugierde
Rolf Linkohr, der an der Uni Stuttgart Physik studiert hat und sich „seither immer mit Technik und Gesellschaft beschäftigt“, wies darauf hin, daß infolge der EU-Erweiterung künftig mehr Staaten am Forschungsrahmenprogramm partizipierten. Es sei zu erwarten, daß die Verfahren noch komplizierter würden. Er warb dafür, Forschung nicht nur zur Lösung von Problemen, sondern zur Befriedigung von Neugierde zu betreiben.
Der Übergang vom 5. zum 6. Rahmenprogramm möge kontinuierlich verlaufen, formulierte Prof. Hein einen Wunsch vieler Wissenschaftler. „Kontinuität in der Programmgestaltung ist wichtig“, betonte er, „verbesserungsfähig“ sei die Bearbeitungszeit. Letzte Hürde sei häufig die Vertragsunterzeichnung. In der Tat sei die Abwicklung kompliziert, gestand Busquin zu. Jedoch gelte es, gerade bei Projekten mit Unternehmen deren Zuverlässigkeit vor der Unterzeichnung zu überprüfen.

Problem „Brain Drain“
Fünfzig Prozent der europäischen Postdocs kehrten von USA-Aufenthalten nicht zurück, berichtete Busquin auf eine Frage zum Problem des „Brain Drain“. Dies seien pro Jahr etwa 20.000 Leute. Besonders hoch seien diese Zahlen in Schweden und Griechenland; in Deutschland sähe es da besser aus. „Der europäische Forschungsraum ist nicht gegen die USA gerichtet, es soll vielmehr einen Austausch geben“, betonte er. Zugleich müsse man mit geeigneten Programmen dafür sorgen, daß Europa für junge Wissenschaftler aus den USA oder Südostasien wieder attraktiver werde. 
Die europäischen Spitzenforschungszentren seien in anderen Ländern Europas zu wenig bekannt, kritisierte er. Hier fehle es an der Information. „Die Grenzen sind heute dichter als im Mittelalter“, meinte er mit Blick beispielsweise auf Forscher aus Osteuropa. Auf Busquins Frage an die Zuhörer, wer in den USA oder in anderen europäischen Ländern studiert oder gearbeitet habe, überwog deutlich der USA-Anteil. „Mobiliät ist keine wissenschaftliche, sondern eine politische Frage“, stellte Prof. Hein dazu fest.
Stuttgarter Wissenschaftler regten unter anderem den Anschluß nichtwissenschaftlicher Institute an Rechnernetze an oder kritisierten zu stark anwendungsorientierte Forschungsthemen, die zu wenig Raum für innovative Ideen ließen. Dieses Problem sei bekannt, bestätigte Dr. Linkohr; der Wunsch nach freier formulierten Themen scheitere häufig an den Mitgliedsstaaten. Busquin sprach sich dafür aus, die nationalen Forschungsprogramme vermehrt für andere Länder zu öffnen. 
Im Anschluß an seinen Besuch an der Uni traf Philippe Busquin im Stuttgarter Haus der Wirtschaft mit Wissenschaftsminister Klaus von Trotha und Rektoren weiterer Hochschulen und Forschungsinstitutionen des Landes zusammen und informierte sich über EU-geförderte Forschung in Unternehmen.  /zi

Weitere Informationen zum Europäischen Forschungsraum:
http://europa.eu.int/comm/research/area.html 
sowie zum 5. Forschungsrahmenprogramm:
http://www.cordis.lu

 


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Pressestelle der Universität Stuttgart

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