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Stuttgarter unikurier Nr. 84/85 April 2000
Internationale Konferenz: Social, Traffic, and Granular Dynamics:
Gemeinsame Regeln für Sand, Verkehr und Aktienmärkte?
 

Aus Anlaß der Emeritierung von Prof. Dr. Wolfgang Weidlich fand im vergangenen Herbst an der Universität Stuttgart eine dreitägige Konferenz zum Thema „Social, Traffic, and Granular Dynamics“ statt. Gegenstand der Tagung waren die verschiedenen Erscheinungsformen sogenannter getriebener Vielteilchensysteme, deren gemeinsame Strukturen in mehreren interdisziplinären Forschungsgebieten untersucht werden. Den Organisatoren Dirk Helbing, Hans J. Herrmann, Michael Schreckenberg und Dietrich E. Wolf vom II. Institut für Theoretische Physik der Universität Stuttgart war es gelungen, zahlreiche international renommierte Wissenschaftler zu gewinnen, darunter den Mitbegründer der sogenannten „Econophysics“ Prof. Eugene Stanley sowie den Stuttgarter Begründer der Synergetik, Prof. Dr. Hermann Haken.

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Nichtlineare Wechselwirkungen in Vielteilchensystemen bringen immer wieder faszinierende Phänomene hervor. In den letzten Jahren hat sich die Aufmerksamkeit insbesondere auf sogenannte „Getriebene Vielteilchensysteme“ konzentriert, in denen kontinuierlich Energie aufgenommen wird. Die Energie kann dabei von außen in das System gelangen, wie etwa bei fallendem oder gerütteltem Sand. Die Energie kann aber auch aus den beteiligten Teilchen selber stammen, wie zum Beispiel bei der Dynamik des Straßenverkehrs oder in Fußgängeransammlungen. Typischerweise wird diese Energie durch einen „Reibungsmechanismus“ absorbiert („dissipiert“, wie die Physiker sagen), so daß das System durch den Wettbewerb zwischen energiegewinnenden und energieabsorbierenden Prozessen charakterisiert wird. Dieses Wechselspiel führt zu einer faszinierenden und häufig unerwarteten Vielfalt von raumzeitlichen Bewegungsmustern.

Verkehrsdynamik
Fällt zum Beispiel Sand durch ein vertikales Rohr, bilden sich „Dichtewellen“, die Ähnlichkeiten zu den Stauwellen im Stop-and-Go-Verkehr auf Autobahnen aufweisen. Für Ingenieure ist es selbstverständlich, die Dynamik der Dichtewellen bei der Konstruktion von Silos und Trichtern zu berücksichtigen. Markanteste Beispiele für selbst-getriebene Teilchen sind jedoch der Fahrzeug- und Fußgängerverkehr, mit denen sich das junge und rasch wachsende Forschungsgebiet der „Verkehrsdynamik“ beschäftigt. Hier stehen unter anderem Fragen zur Entstehung von „Staus aus dem Nichts“ oder nach den Regelmäßigkeiten des „Stop-and-Go-Verkehrs“ auf Autobahnen im Vordergrund. Des weiteren wurde über die Möglichkeiten einer Kurzzeit-Verkehrsprognose diskutiert.

Verkehrssteuerung
Die Wissenschaftler erwarten - so hat die Tagung gezeigt - aus den computergesteuerten Simulationen auch Hinweise für neue verkehrslenkende Maßnahmen. Neben den bekannten Tempolimits oder Lkw-Überholverboten an Steigungen haben die Simulationen gezeigt, daß auch Zuflußregelungen an Einfahrten, lokale Spurwechselverbote und die elektronische Kommunikation zwischen Fahrzeugen als aussichtsreiche Maßnahmen gelten können.

Selbstorganisierte Fußgänger
Auch die Analyse des Fußgängerverkehrs hat unerwartete Phänomene zutage gefördert. In einem zunächst unkontrolliert wirkenden Menschengewühl bilden sich rasch Bahnen, in denen sich Fußgänger in einheitlicher Richtung bewegen. An Kreuzungen kann sich wie von Geisterhand ein praktischer Kreisverkehr selbstorganisieren, obwohl es zunächst keine Vorzugsrichtung gab, und vor Verengungen, auf die von beiden Seiten Leute drängen, entstehen Oszillationen der Durchgangsrichtung, die ein Fortkommen sichern. Nimmt die Menschendichte jedoch zu und entsteht gar eine Panik, so verringert sich schlagartig der Durchsatz beträchtlich; dieses gegenintuitive Phänomen wird „freezing by heating“ genannt.

Social Dynamics
Auf einer abstrakteren Ebene können auch ökonomische und soziale Systeme als nichtlineare selbstgetriebene Vielteilchensysteme betrachtet werden, zum Beispiel der Prozeß der Meinungsbildung oder die Dynamik von Wirtschaftszyklen. In letzter Zeit wird vor allem die Modellierung der Dynamik von Währungs- und Aktienmärkten intensiv untersucht, da dort die Datenlage besonders gut ist. Eine der Fragestellungen dieses neuen Gebiets der „Econophysics“ ist die Untersuchung von Möglichkeiten, starke Fluktuationen oder Crashs zu vermeiden. /eng

KONTAKT
Dr. Martin Treiber, II. Institut für Theoretische Physik, Universität Stuttgart, Pfaffenwaldring 57, 70550 Stuttgart, Tel: 0711/ 685-4917, Fax: 0711/685-4902, e-mail: treiber@theo2.physik.uni-stuttgart.de

 


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Pressestelle der Universität Stuttgart

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