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Stuttgarter unikurier Nr. 84/85 April 2000
Quasikristalle oder der dritte Zustand der festen Materie:
Erst schön und heute praktisch
 

Eine mathematische Überraschung und eine physikalische Entdeckung haben vor wenigen Jahren ein neues Forschungsgebiet begründet, das inzwischen handfeste Ergebnisse für Anwendungen des täglichen Lebens liefert. Das sogenannte Parkettierungsproblem und die Entdeckung der Quasikristalle haben gezeigt, daß es in Mathematik und Natur eine Ordnung gibt, die ohne Periodizität auskommt und dabei ästhetisch gelungene Formen hervorbringt. Einblicke in die vordersten Fragen des neuen Forschungs- und Anwendungsgebietes konnte man bei der 7. Internationalen Konferenz über Quasikristalle erhalten, die im vergangenen Jahr an der Universität Stuttgart stattfand. Die Konferenz wurde organisiert von Prof. Hans-Rainer Trebin und Mitarbeitern des Instituts für Theoretische und Angewandte Physik der Universität Stuttgart sowie des Max-Planck-Instituts für Metallforschung.

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Noch ist es niemandem gelungen, mit fünfeckigen Kacheln eine Wand zu fliesen, ohne nicht jede Menge Lücken ausspachteln zu müssen. Eine Fläche vollständig zu füllen ist möglich mit dreieckigen, viereckigen, auch sechseckigen Kacheln, nicht aber mit fünfeckigen. Ordnung und Harmonie vollständig gekachelter Flächen stammen, wie besonders Mosaike zeigen, in der Regel aus der periodischen Wiederkehr der Muster. Gibt es aber auch Formen, mit denen man eine Fläche zwar lückenlos füllen kann, aber ausschließlich auf aperiodische Weise, ohne dabei wiederkehrende, periodische Muster zu erzeugen? Für dieses sogenannte Parkettierungsproblem fand der renommierte englische Mathematiker Sir Roger Penrose bereits 1973 eine überraschende Lösung. Ihm gelang die Parkettierung mit nur zwei Formen. Die damit erzeugten sogenannten Penrose-Muster erinnern an Grafiken von M.C. Escher: aufeinander aufbauende und in sich verschränkte Muster, die irgendwie wiederkehren, aber eben nicht ganz. Obwohl es sich um nicht-periodische Muster handelt (durch Falten lassen sie sich nicht zur Deckung bringen), sind sich alle Muster ähnlich. Der Mönch steigt ständig eine Treppe hoch und bleibt doch auf derselben Ebene.

Was es nicht geben dürfte
Kristallgitter sind periodisch geordnet und zeigen im Röntgen- oder Elektronenbeugungsbild scharfe Reflexe. Schon Kepler hat erkannt, daß Periodizität und Fünfzähligkeit nicht miteinander vereinbar sind. Deshalb galt es als Prinzip: Fünfzählige Beugungsbilder mit scharfen Reflexen darf es nicht geben. Dieses Prinzip wurde jedoch gehörig erschüttert, als 1984 Dany Sche.htmlan und seine Kollegen am National Bureau of Standards an den Elektronenbeugungsdiagrammen einer Aluminium-Mangan-Legierung ikosaedrische Symmetrie entdeckten, welche fünfzählige Drehachsen enthält. Zur Erklärung zog man die Mosaike nach dem Penrose-Muster heran. Sie füllen in zwei Dimensionen nichtperiodisch eine Fläche, aber jeden Ausschnitt daraus findet man an anderer Stelle wieder. Auch jeden Ausschnitt des um ein Fünftel des vollen Kreises gedrehten Musters findet man im Ausgangsmuster. Deshalb spricht man von einer fünfzähligen Symmetrie im Mittel. Strahlung, die vom Muster gebeugt wird, führt diese Mittelung durch. Die Beugungsbilder zeigen deshalb einerseits scharfe Reflexe - wie bei periodischen Kristallen - andererseits die exakte fünfzählige Symmetrie. Heute kennt man bereits mehr als hundert verschiedene metallische Legierungen, deren Aufbau diesem ungewöhnlichen Muster folgt. Fünfeckige und zehneckige Atomanordnungen bestimmen das Bild, und trotz der offensichtlichen Regelmäßigkeit wiederholt sich das atomare Muster niemals vollständig. Damit war theoretisch und experimentell ein dritter Zustand der festen Materie entdeckt, denn physikalisch gesehen galt Materie entweder als ungeordnet amorph oder sie zeigte wiederkehrende Regelmäßigkeiten als Kristall.

Der dritte Zustand
Mit diesem dritten Zustand der festen Materie - den Quasi-Kristallen - haben sich seit 1984 weltweit Physiker, Mathematiker und Chemiker beschäftigt. Zunächst war das Interesse für diese neue Werkstoffkategorie weitgehend akademisch beziehungsweise grundlagenorientiert, aber inzwischen lassen sich quasikristalline Legierungen auch in größeren Mengen industriell herstellen und verarbeiten. Ihre industrielle Verwendbarkeit und die rasch einsetzende anwendungsorientierte Forschung verdanken die Quasikristalle ihren außergewöhnlichen physikalischen Eigenschaften, wie zum Beispiel eine extrem kleine elektrische und Wärme-Leitfähigkeit, große Härte, geringe Reibung, geringe Adsorption und Chemiesorption. Sie sind technologisch einsetzbar als Spezialbeschichtungen, als leichte und hochfeste Werkstoffe und sogar als Wasserstoffspeicher. In der französischen Metallindustrie werden quasikristalline Oberflächenbeschichtungen eingesetzt. In Japan wurde eine ganze Reihe quasikristalliner Legierungen für spezielle Anwendungen entwickelt, die bis zu sehr hohen Temperaturen einsetzbar sind. Ein führender schwedischer Stahlkonzern hat chirurgische Stähle auf den Markt gebracht, die ihre besonderen Eigenschaften quasikristallinen Bestandteilen verdanken. Andere Anwendungen beruhen auf der ungewöhnlich niedrigen Benetzbarkeit quasikristalliner Materialien. Sie ist der von Kunststoffbeschichtungen in Kochgeräten vergleichbar, ohne deren Nachteile der geringen Hitzebeständigkeit und Härte aufzuweisen.

Stuttgarter Kompetenz
Auch an der Universität Stuttgart wurde sehr schnell international anerkannte Kompetenz in dieser neuen Disziplin aufgebaut. Beleg dafür ist die Vergabe der siebten internationalen Konferenz über Quasikristalle im letzten Jahr an die Universität Stuttgart, nach St. Louis, Avignon und Tokio in den vergangenen Jahren. Über 300 internationale Experten aus den Bereichen der Metallphysik, der Kristallographie, der Metallurgie und der Metallverarbeitung waren zu der fünftägigen Veranstaltung nach Stuttgart gekommen. Dabei ging es vor allem um die physikalischen Grundlagen der neuartigen Eigenschaften quasikristalliner Materialien. Viele davon sind nach wie vor nicht oder nur wenig verstanden. Die erste, inzwischen legendär gewordene, Tagung mit wenigen eingeladenen Forschern der ersten Stunde fand 1986 in den französischen Alpen in Les Houches statt. Seit damals ist das Interesse enorm angestiegen, über 7.000 Beiträge sind in wissenschaftlichen Zeitschriften erschienen.

Industrie zeigt Interesse
Prof. Knut Urban prognostiziert in dem Vorwort des voluminösen Tagungsbands, daß die Quasikristallforschung in den nächsten Jahren zahlreiche weitere metallische Verbindungen mit quasikristallinen Strukturen entdecken wird. Die Materialwissenschaften stehen hier jedoch vor dem Problem, daß die Industrie an die Einführung neuer Werkstoffe sehr hohe Anforderungen stellt. Die erwarteten Verbesserungen der physikalischen Eigenschaften werden nur dann umgesetzt, wenn damit niedrigere Produktionskosten einhergehen. Die aktuellen Forschungsprogramme in Deutschland, Japan und den USA zeigten aber, so Urban, daß man heute global daran geht, die physikalischen Herausforderungen in den Griff zu bekommen. Von der Deutschen Forschungsgemeinschaft wird inzwischen ein Schwerpunktprogramm zu Struktur und physikalischen Eigenschaften der Quasikristalle gefördert (http://spqk.itap.physik.uni-stuttgart.de).

Chancen für den Nachwuchs
Das noch junge Forschungsgebiet besitzt offensichtlich einen hohen wissenschaftlichen Reiz, gleich ob dieser von der Schönheit des Gegenstandes oder seines Innovationspotentials ausgeht, der vor allem den dringend benötigten Physiker-Nachwuchs anzieht. Die hohe Qualität der Vorträge vor allem der jungen Wissenschaftler auf der Stuttgarter Konferenz gebe Anlaß zu der Hoffnung, so Urban, daß in der physikalischen Forschung zu den Quasikristallen der anstehende Generationswechsel in der Scientific Community auf einem guten Wege sei. /eng

KONTAKT
Prof. Hans-Rainer Trebin, Institut für Theoretische und Angewandte Physik, Universität Stuttgart, Pfaffenwaldring 57, 70550 Stuttgart, Tel: 0711/685-5253, -5254, Fax: 0711/685-5271, e-mail:trebin@itap.physik.uni-stuttgart.de

 


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Pressestelle der Universität Stuttgart

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