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Stuttgarter unikurier Nr. 82/83 September 1999
Stadtentwicklung:
Zur Bedeutung citynaher Entwicklungsflächen
 

Waren die 80er Jahre das Jahrzehnt der behutsamen Stadterneuerung, so sind die 90er für die Städte ein Jahrzehnt des strukturellen Wandels und der postindustriellen Modernisierung. Nicht mehr die Industrie, sondern andere Sektoren bilden die Lebensgrundlage der Stadt: Finanzgewerbe und hochspezialisierte Dienstleistungen, Forschung und Ausbildung, Medien und Information, Kultur, Freizeit und Tourismus.

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Durch Autobahnen, ICE und Fluglinien immer enger vernetzt, formiert sich in Deutschland ­ und in Europa ­ eine immense Städte-Stadt oder Netzstadt, wobei die einzelnen Städte immer härter konkurrieren, um die wegrationalisierte, ins Umland oder Ausland verschwindende Industrie zu ersetzen. Um im “Standort-Monopoly“ zu bestehen, müssen erhebliche Vorleistungen erbracht werden. Dabei spielen neben den “harten“ Faktoren ­ etwa die strategische Lage, moderne Transport- und Infrastruktursysteme, ausreichendes Flächenangebot ­ zunehmend die “weichen“ Standortfaktoren eine entscheidende Rolle: ein positives Stadt-Image, hoher Freizeitwert, ein weltläufiges Kulturleben, hervorragende Ausbildungs- und Forschungsstätten, ein attraktives Wohnangebot.
Die Frage nach einer zukunftsfähigen, langfristig für Arbeit und Einkommen sorgenden Stadtökonomie kann heute wohl nur noch im Rahmen einer qualitativ hochwertigen Stadtentwicklung gelöst werden; dabei gilt es, alle Ressourcen zu mobilisieren, um ein möglichst attraktives Stadtprofil zu schaffen.

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Diese Aufnahme des Boschareals in Stuttgart aus dem Jahr 1995 ist bald Geschichte; der Abriß hat begonnen. (Quelle: Das Boschareal, 1998, hrsg. vom Verein zur Förderung und Erhaltung historischer Bauten e.V.).

Gleichzeitig ­ und nicht weniger wichtig ­ verstärkt sich die Forderung nach einer neuen Stadtökologie, die schonend mit den natürlichen Ressourcen umgeht und so für ein “nachhaltiges“ Gleichgewicht der gebauten und der natürlichen Umwelt sorgt. Hierbei ist die “Agenda 21“ richtungsweisend, auch wenn die Schwierigkeiten offensichtlich sind, deren Prinzipien in die Praxis umzusetzen. Immerhin gibt es, von der Bautechnik bis zum Städtebau, viele neue Konzepte und Experimente, die einen stadtökologischen Ansatz verfolgen. Dies betrifft vor allem die Energie, aber auch den Verkehr, die Bodenversiegelung, den Wasser- und Rohstoff-Verbrauch, das Stadtklima und viele andere Aspekte.
Realistischerweise muß aber auch festgestellt werden, daß einige Trends in die entgegengesetzte Richtung weisen, wodurch die stadtökologischen Ansätze relativiert, wenn nicht sogar unterlaufen werden. Dies trifft auf die stetig zunehmende Mobilität zu, ebenso auf die Tatsache, daß die Städte immer noch wachsen, und dies bei stagnierender oder sogar abnehmender Bevölkerung. So füllen sich auch die letzten Landschafts- und Agrarräume der Städte-Stadt längst mit der “Zwischenstadt“ auf, ein flächendeckendes, semiurbanes Gebilde ohne Anfang und Ende, das den größten Teil Deutschlands bedeckt.
Eine dritte Herausforderung betrifft die Bewältigung sozialer und demographischer Tendenzen insbesondere in den Großstädten: Arbeitslosigkeit, die sich öffnende Schere zwischen Reich und Arm, das Verschwinden traditioneller Familien- und Haushaltsstrukturen, die rapide Alterung der Bevölkerung, der wachsende Ausländeranteil, die zunehmende Präsenz multiethnischer und multikultureller Lebensformen. Auch hier ist eine neue Stadtpolitik gefordert, um die Voraussetzungen für ein “nachhaltiges“ Zusammenleben der sich verändernden Bevölkerung, ihrer unterschiedlichen Gruppen, Ethnien und Kulturen zu schaffen.
Zweifellos kann der Städtebau bei der Antwort auf die ökonomischen, ökologischen und sozialpolitischen Herausforderungen eine wichtige Rolle spielen.

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Attraktives Wohnen auf dem ehemaligen Coop-Gelände an der Heilbronner Straße (Quelle: Erfahrungsbericht Stadterneuerung 1990­1996, hrsg. von der Landeshauptstadt Stuttgart).

Potentiale für die Stadtentwicklung
Die ungenutzte und teilweise verfallende Infrastruktur der klassischen Industriestadt ­ Hafen- und Bahnarreale, Fabrikgelände und Lagerhallen ­ war noch bis vor kurzem ein deprimierendes Symbol des Niedergangs. Diese Sicht hat sich nun drastisch gewandelt, weil auch das enorme städtebauliche Potential dieser oft zentrumsnahen Flächen erkannt worden ist: Hier können alle jene Funktionen implantiert werden, die in den Zentren noch fehlen, hier kann durch die Verdichtung der Kernstadt der horizontalen Expansion entgegengewirkt werden, sogar der extreme Rückbau, das heißt die Umwandlung der alten Industriearreale in Frei- und Grünflächen ist möglich. Ebenso können diese Flächen aber auch anderen stadtpolitischen Zielen dienen, etwa der Belebung der extrem kommerzialisierten Innenstädte und der Verbesserung der Sozialmischung durch entsprechenden Wohnungsbau.
So eröffnen sich in der Innenentwicklung der Städte plötzlich völlig neue Möglichkeiten. Die alten Fabrik- und Kasernengelände, die Güterbahnhöfe und Industriehäfen, soweit sie in der Kernstadt liegen, sind plötzlich zum privilegierten Experimentierfeld eines neuen Städtebaus geworden, der zeigen muß, ob er einen Beitrag zur Bewältigung der urbanen Herausforderungen leisten kann. Diese strategische Aufgabe rechtfertigt in den meisten Fällen auch die erheblichen Kosten.
Aus planerischer Sicht sind die anstehenden Entscheidungen vor allem deshalb spannend, da es sich in vielen Städten um die letzte große Flächenreserve für die innerstädtische Entwicklung handelt. Werden diese letzten “Leerräume“ unbedacht besetzt, ist die Chance für großangelegte Modernisierungsprojekte in der Kernstadt wohl für Jahrzehnte vertan. Dies vor allem deshalb, weil die Komplexität des Bestands kaum noch größere Eingriffe zuläßt, oder diese sich aus lokalpolitischen, finanziellen und planungsrechtlichen Gründen über Jahrzehnte hinziehen.
Die Epoche funktionalistischer und eindimensionaler Lösungen, wie sie die klassische Moderne im Städtebau hervorgebracht hat, ist endgültig vorbei. Heute ist die extreme Offenheit des städtebaulichen Entwerfens geradezu zum Programm geworden. Die Suche nach immer neuen Nutzungen und Mischungen führt zu einer intensiven Durchdringung von Business und Wohnen, von Kunst und Kommerz, von Information und Unterhaltung, auch von Quartiersidentität und weltläufigem Tourismus. Es ist auch klar, daß eine möglichst “dichte Packung“ aller dieser Lebenssphären am konsequentesten als Simulation gelingt, das heißt als postmoderne Schein- und Kunstwelt, die augenzwinkernd mit allen möglichen Bauformen und Nutzungsreizen spielt.

Pionierrolle Berlins
In den großen Städten gibt es bereits vielfältige Planungs- und Projektvarianten, die sich mit citynahen Altflächen beschäftigen; Berlin spielt dabei zweifellos eine Pionierrolle. Hier gab es wohl die weltweit umfassendste Chance, riesige zentrale Stadtflächen neu zu nutzen. So sind dort auch die wichtigsten Projekttypen, die jetzt in vielen Städten und Varianten wiederholt werden, deutlich zu erkennen. Ganz oben steht dabei der Potsdamer Platz, ein post-modernes Großstadtquartier des 21. Jahrhunderts, trotz der “kritischen Rekonstruktion“ des alten Stadtgrundrisses aber auch ein Weltstadt-Implantat, das in jede andere Metropole paßt.
Ebenso prototypisch ist der neue Lehrter Bahnhof, ein Hyperknoten des metropolitanen Verkehrs und als solcher ein Symbol der stetig zunehmenden Mobilität. Zu einem gewaltigen Dienstleistungskomplex mutiert, steht dieser Bahnhof nicht mehr isoliert im Stadtgefüge, sondern wird zum Kristallisationspunkt und Image-Träger eines komplett neuen Stadtquartiers, das an der angebotenen Verkehrsinfrastruktur nach Kräften partizipiert.
Die Anpassung alter Bahnhöfe und Bahnsysteme an eine neue, europaweite Mobilität ist in vielen deutschen Großstädten das aktuelle Thema. Wie bei Stuttgart 21, so stehen auch Frankfurt, München, Leipzig und andere Städte vor der Option, solche Großprojekte in unmittelbarer Nähe des Zentrums zu realisieren. Trotz der gigantischen Kosten und der Unsicherheiten, was mögliche Investoren betrifft, liegen Konzepte und Pläne bereits auf dem Tisch. Dabei sind sich diese Projekte in ihrer Zielsetzung sehr ähnlich, auch wenn die städtebauliche Ausformung durchaus markante Unterschiede aufweist. Ein Beispiel ist Stuttgart 21, wo man sich an die bewährten Blockstrukturen der europäischen Stadt hält, ein anderes ist Frankfurt 21, wo auf dem Bahngelände eine markante “amerikanische“ Turmgruppe entstehen soll.
Ein weiterer Projekttyp ist die Umnutzung vorhandener Bausubstanz. Die völlige Umwandlung alter Fabrikgebäude, Lagerhallen und Bahnhöfe in Stätten der Kultur und Unterhaltung wird bereits überall praktiziert, auch dies ist ein wichtiges Element im post-industriellen Umbau unserer Städte. Die Umnutzung alter Großbauten und Gebäudekomplexe hängt allerdings nicht allein von der Planung ab, sondern ergibt sich fast unvermeidlich aus der strategischen Lage. Dies ist beispielsweise der Fall bei Hamburgs historischer Speicherstadt, die ­ entgegen der offiziellen Planung ­ zunehmend unter Umnutzungs- und Aufwertungsdruck gerät.
Ähnliches gilt für die Umwandlung stadtnaher Ufer- und Hafenzonen in attraktive Waterfront-Projekte und Marinas. Wie in Barcelona haben bereits viele Großstädte und Metropolen die Chance genutzt, ihre teilweise riesigen Ufer- und Hafenflächen neu zu nutzen, wie etwa in London die Docklands und in New York das World Financial Center und die Battery Park City. Aber auch in deutschen Städten wie Frankfurt und Hamburg spielen Waterfront-Projekte, die auf eine Umnutzung überalterter Ufer- und Hafenarreale aufbauen, eine zunehmend wichtige Rolle.

Eckhart Ribbeck

 


last change: 27.10.99 / gh
Pressestelle der Universität Stuttgart

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