Home           Inhalt
Stuttgarter unikurier Nr.80/November 1998
Die Faszination für Kulturen vor der Kultur:
Ägyptomanie und Dinosaurierkult
 

Das Zentrum für Kulturwissenschaften und Kulturtheorie stellte mit den Vorträgen des Ägyptologen Jan Assmann (Heidelberg) und des Literatur- und Kunstwissenschaftlers W.J.T. Mitchell (Chicago) im vergangenen Sommersemester zwei weitere Positionen in der Vortragsreihe Kulturtheorien vor. Aus gänzlich verschiedenen Fachrichtungen kommend, verfolgten beide Referenten ein durchaus vergleichbares Interesse: Welche Funktion hat die kultische Verehrung von versunkenen Kulturen und Naturen in der Gedächtnisgeschichte des Abendlandes?

kleinbal.gif (902 Byte)
 

Die Gedächtnisgeschichte definiert sich nicht über das zunehmende Wissen zu einem Forschungsgegenstand, sondern als Geschichte der Vorstellungen, die das kollektive Gedächtnis auf ganz unwissenschaftliche Weise entwirft. Während die Archäologie erforscht und archiviert, was sonst vergessen würde, lebt die kulturelle Erinnerung als identitätsstiftendes Bedürfnis auch ohne Ziel und Fortschrittsgedanke weiter.

Ägypten in der Gedächtnisgeschichte
Jan Assmann beschrieb in seinem Vortrag „Ägypten in der Gedächtnisgeschichte des Abendlandes“ die Phasen und Funktionen der europäischen Ägyptomanien. Einen ersten Gipfel erreichte die Ägyptenromantik in der Renaissance: Marsilio Ficino legte seine Platonübersetzung beiseite, um sich den gerade entdeckten Manuskripten des Hermes Trismegistos und des Horus Apollo zu widmen, die er für Zeitgenossen Moses’ hielt. Die Rezeption der beiden ägyptischen Weisen stand im Zeichen einer kosmotheistischen Wende. So sah man in den Hieroglyphen den Ausweg, die als Entfremdung empfundene Ausdifferenzierung von Schrift und Natur wieder aufzuheben. Das hieroglyphische Alphabet galt als ein Alphabet der Dinge, das ohne die Vermittlung eines arbiträren Zeichens auskomme und somit das Trauma der babylonischen Sprachverwirrung beenden könne.
Diese Sehnsucht fand zu Beginn des 17. Jahrhunderts ein jähes Ende, die angeblich ägyptischen Manuskripte erwiesen sich - wiederum zu Unrecht - als christliche Fälschungen. Für eine neue Kultfigur sorgten sogleich die Hebraisten: Moses selbst wurde nun zum Ägypter. Zumindest habe er ihre Mysterien noch verstanden, denn als Begründer der neuen jüdischen Religion habe er sie übersetzen und überschreiben müssen. Aus einer strategischen Notwendigkeit für Volk und Staat sei Moses Erfindung des einen Nationalgottes unerläßlich gewesen. Hinter diese Pragmatisierung der Religion zurück-zugehen zur negativen Theologie eines magischen Wissens um das All-Eine, das nicht einmal einen Gott braucht, war das Anliegen der barocken Gelehrten, das später auch Aufklärer, Freimaurer und Illuminaten im Pantheismus des 18. Jahrhunderts, zum Beispiel im Kult um die Göttin Isis, weiterführen werden.

Was macht Dinosaurier interessant?
Mit dem Aufkommen der nur noch am Fortschritt interessierten Geschichtsphilosophie des 19. Jahrhunderts kippt die Verehrung des Geheimen und Unerklärlichen häufig in die Trivialität. Wie W.J.T. Mitchell in seinem Vortrag „Paleoart - or how the Dinosaurs broke into the Museum of Modern Art“ jedoch deutlich machen konnte, lassen sich durchaus Parallelen zwischen dem Gedächtnis der Populärkultur und der Kunst erkennen.
So bildet heute der Dinosaurier ein ähnliches Faszinosum wie einst der Ägypter: die Suche nach einer Weisheit vor dem abendländischen Wissen wird nun ersetzt durch den Traum von einer Natur vor dem Menschen; einer „Kultur“ also, die die Ausdifferenzierung von Mensch und Kultur noch nicht kannte, so wie auch der Ägypter die Unterscheidung von Gott und Mensch noch nicht vollzogen hatte.
Allerdings symbolisiert der Dinosaurier nicht nur die naive Sehnsucht nach einer heilen Welt, er steht gleichzeitig für das schlechte Gewissen unserer Zeit, solche Ur-Weisheiten nicht mehr annehmen zu wollen. Er ist der Held, der als das ausgeschlossene Andere und Obsolete in unsere hochzivilisierte und technisierte Welt immer wieder einbricht. Einst als Fehler der Schöpfung durch die Evolution ausradiert, hat er den Fortschritt trotz allem überlebt. Er inkarniert die dialektische Antimoderne, die uns immer wieder einholt und von der Vergeblichkeit aller Mühen zeugt. Die Natur werden wir niemals überwinden, sie wächst als Unbezwingbare vielmehr mit: der Dinosaurier ist in der Abbildung und Darstellung immer exakt so groß wie das höchste Gebäude, das wir zu einer bestimmten Zeit bauen konnten - bis hin zu Godzilla, der heute sogar die Hubschrauber vom Himmel holt.
Dieser Zusammenhang ist nach Mitchell nun auch in der Kunst des 20. Jahrhunderts zu beobachten. Das Museum für moderne Kunst schrieb die Kunstgeschichte zunächst als Naturgeschichte: die Evolution der Kunst wurde konzipiert als ein „survival of the fittest“ - jeweils gemessen am Endziel der Moderne, der Abstraktion. Damit forderte das Museum den Einbruch des Anderen geradezu heraus. Der Dinosaurierknochen steht demgegenüber für eine andere Art des Bildermachens, er ist figurativ und abstrakt zugleich. Einerseits verweist er nur noch als Spur auf seine ehemalige Präsenz, andererseits übt er als echtes Relikt und als analoger Abdruck eine größere Faszination aus als jedes arbiträre Zeichen. Diesen Mehrwert sucht die Kunst, die Paleoart, wieder zu nutzen. Das Museum, ehemals Hochburg der Abstraktion, muß nun anbauen - um auch die Geschichte des fortschrittsfeindlichen Dinosauriers zu erzählen, der keine Entwicklung kennt, aber ewig währt. Ob als Hieroglyphe oder als Dinosaurier, die Sehnsucht nach einer Urschrift beziehungsweise einem Urbild ist aus der abendländischen Gedächtnisgeschichte nicht wegzudenken.

A. Geiger

KONTAKT
Zentrum für Kulturwissenschaften und Kulturtheorie, Keplerstr. 11, 70174 Stuttgart, Tel: 0711/121-2589, Fax: 0711/121-2813

 


last change: 02.03.99 / gh
Pressestelle der Universität Stuttgart

Home           Inhalt