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Stuttgarter unikurier Nr.80/November 1998
Gastprofessur der DVA-Stiftung:
Medizin und Marktwirtschaft
 

Am 7. Juli 1998 hielt Professor Dr. Olivier Faure aus Lyon einen Festvortrag zum Thema „Medizinischer Markt im 19. Jahrhundert. Patienten, Heilkundige, Institutionen“. Prof. Faure lehrte während des Sommersemesters 1998 am Historischen Institut im Rahmen einer von der DVA-Stiftung finanzierten Gastprofessur.

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Mit großem Interesse verfolgte das Publikum den Vortrag, der sich mit so scheinbar gegensätzlichen Dingen wie der dem selbstlosen Dienst am Menschen verpflichteten Medizin und einem wirtschaftlichen Gesetzen gehorchenden Markt beschäftigte. Faure legte jedoch an zahlreichen Beispielen und in chronologischen Betrachtungen der Medizingeschichte dar, daß die Medizin schon im 19. Jahrhundert marktwirtschaftlichen Gesetzmäßigkeiten folgte. Noch heute seien solche Mechanismen in der Medizin bestimmend.

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Prof. Faure.                  (Foto: Eppler)

Der von Prof. Faure definierte Markt wird von den drei beteiligten Größen Arzt - Patient - Staat bestimmt. Die Ende des 18. Jahrhunderts auch aus politischen Gründen einsetzende staatliche Förderung der Medizin, die letztlich einer Bevölkerungsvermehrung, einer Stärkung des Staates und der Wirtschaft dienen sollte, führte zwangsläufig zu einer Zunahme an Ärzten. Solche Phasen einer hohen Ärztezahl, ja Ärzteschwemme seien am Anfang und am Ende des 19. Jahrhunderts sowie in der Gegenwart auszumachen, dazwischen jedoch traten immer wieder Phasen der Unterversorgung auf. Bestimmend für diese Phasen seien staatliche Eingriffe ebenso wie neue Erfindungen, aber auch das Verhalten der sich entwikkelnden Organisationen wie Ärztekammern und Krankenkassen. So versuchten Ärztekammern in Frankreich schon im 19. Jahrhundert, mit Kampagnen gegen Neuzulassungen und gegen Krankenversicherungen dem zunehmenden Konkurrenzdruck entgegenzuarbeiten und den Markt zu steuern.
Nicht zuletzt aber sei auch das Verhältnis zwischen Arzt und Patient in vielfältiger Weise marktgesetzlichen Gesichtspunkten unterworfen - bis zu dem absurden Beispiel, daß im letzten Jahrhundert Eltern kostenlose Schutzimpfungen für ihre Kinder nicht wahrnehmen wollten, weil sie hinter der Gratisaktion eine schlechte medizinische Leistung argwöhnten - Leistung habe ja schließlich ihren Preis, wie man es bisher gewohnt war.
Und mehr noch: Hinter den aus medizinischen Gründen bewußt hervorgerufenen kleineren Krankheitsausbrüchen, die die Schutzimpfungen begleiteten, vermuteten manche gar einen geschäftstüchtigen Versuch der Ärzte, sich Patienten zu machen.
Des weiteren könne, so Faure, beobachtet werden, daß sich innerhalb dieses medizinischen Marktes bei einer Ärzteüberversorgung geradezu „Modekrankheiten“ entwickeln - will sagen: bei zunehmendem Konkurrenzdruck bei den Ärzten behandeln diese nur zu gerne auch Scheinkrankheiten oder kleinere Beschwerden.
Ein weiterer Punkt: die Aufwärtsentwicklung des Krankenhauses, der Konkurrenzdruck, das gegenüber früheren Jahrhunderten zunehmende Engagement der Ärzte in den Krankenhäusern und die abnehmende persönliche Bindung zwischen Arzt und Patient haben dazu geführt, daß der Patient immer mehr zur Ware im Markt Medizin werde.
Abschließend nannte Faure eine Ursache für die skizzierten Entwicklungen, die er in einem Bewußtseinswandel der Ärzte vermutet. Seit Beginn des 19. Jahrhunderts sei ein veränderter Anspruch festzumachen: Nicht mehr die Heilung des einzelnen Patienten stehe im Vordergrund, sondern die grundlegende Bekämpfung von Krankheiten und die Schaffung einer besseren Welt. Das führe zu einem gewandelten Engagement, zu einer Distanzierung vom einzelnen Patienten, zur Behandlung von Krankheiten, nicht von Kranken und damit zur Schematisierung des einzelnen Patienten. Der medizinische Markt trage im übrigen die Tendenz zur kontinuierlichen Expansion in sich.
Die Thesen des Gastprofessors mit ihren Bezügen zur Gegenwart standen denn auch im Mittelpunkt der Gespräche beim anschließenden Umtrunk. Faure ist bereits der zehnte Gastprofessor, den die DVA-Stiftung an die Universität Stuttgart geladen hat. Ziel der Stiftung ist eine Intensivierung der deutsch-französischen Beziehungen, ein „Gestalten in begrenztem Raum“, wie Geschäftsführer Horst Frank einleitend ausgeführt hatte. Bisher haben die Institute Geschichte, Romanistik und Städtebau von diesen Gastprofessuren profitiert. Geplant sei eine Ausdehnung der Gastprofessuren auch auf die Institute Politik und Philosophie, die Schaffung von Promotionsstipendien und die Intensivierung des Austausches etwa durch weitere Gastvorträge. Frank nannte als Fernziel der DVA-Stiftung die Schaffung eines Frankreichzentrums an der Universität Stuttgart. Eine entsprechende Vereinbarung, die auch die Kooperation mit der Universität erweitert, soll am 24. November 1998 unterzeichnet werden.
Der Geschäftsführende Direktor des Historischen Instituts, Prof. Dr. Folker Reichert, begrüßte das Engagement der DVA-Stiftung, das für Studierende und Lehrende eine Bereicherung darstelle. Er stellte dem Publikum den französischen Gast nicht nur als ausgewiesenen Medizinhistoriker vor, sondern auch als Mann, der beispielsweise mit Forschungen zur Geschichte der Homöopathie in Frankreich wissenschaftliches Neuland betrete.
Der 1953 in Lyon geborene Faure leitet den Forschungsbereich „Geschichte der Gesundheit und der Fürsorge“ im Centre Pierre Léon für Wirtschafts- und Sozialgeschichte in Lyon.

C. Rabe

 


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Pressestelle der Universität Stuttgart

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