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Stuttgarter unikurier Nr.80/November 1998
Gegenwartsliteratur unter der Lupe:
Junge Autoren Italiens zu Gast
 

Zu einer besonderen Begegnung hatte die Abteilung Romanische Literaturen II (Italianistik) des Instituts für Literaturwissenschaft der Universität Stuttgart am 26. Juni 1998 in die Universitätsbibliothek geladen: Die gioventù cannibale, italienische Autorinnen und Autoren, deren Texte wesentlich von der medialen Realität der 90er Jahre geprägt sind, stellten ihre aktuellen Arbeiten vor. Tiziano Scarpa, Giulio Mozzi, Aldo Nove, Isabella Santacroce und Giuseppe Culicchia standen dem Publikum bei der Veranstaltung innerhalb des Kooperationsvertrages zwischen der Universität und dem Istituto Italiano di Cultura Stuttgart ausführlich Rede und Antwort.

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Nach der Begrüßung durch den italienischen Generalkonsul in Stuttgart, Dr. Bernardo Carloni, und die Leiterin des Istituto Italiano di Cultura Stuttgart, Dr. Luisa Pavesio, leitete Dr. Franca Janowski (Universität Stuttgart) die Lesung ein. Prof. Remo Ceserani (Universität Bologna) skizzierte in einem Vortrag über „Experimentelles Erzählen und Konditio-nierung durch Marktmechanismen in der Postmoderne“ die Rahmenbedingungen der italienischen Gegenwartsliteratur.

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Giulio Mozzi (links), Aldo Nove.

Die Schriftsteller, alle in den 60er Jahren geboren, stellten unter Beweis, daß sie trotz des Etiketts cattivisti (»die Fiesen«), unter dem sie gemeinhin zusammengefaßt werden, eine erstaunliche individuelle Vielfalt repräsentieren. Aus dem noch unveröffentlichten Roman Amore trug Tiziano Scarpa Auszüge vor, die die Virtuosität erkennen ließen, mit der er verschiedenste Sprachregister beherrscht, von der päpstlichen Enzyklika bis zum naiv-staunenden Bericht über ein in einer Augenhöhle ausgebrütetes Küken. Auch die kurze Erzählung, die Giulio Mozzi vorstellte, war mit „Amore“ betitelt. Reportageartig nähert sich dieser Text dem Thema Pädophilie, wobei weder moralisierende Autorenkommentare noch psychologisierende Innenschauen den Blick auf die Situation versperren. Aldo Nove trug aus seinem Sammelband Superwoobinda die Erzählung „Fuffi“ vor, deren Titelheld - das Schoßhündchen einer schwedischen Blondine - verhindert, daß die Wunschvorstellungen des Erzählers Wirklichkeit werden. Satzfetzen in Pidgin-Italienisch und der bis zum Überdruß wiederholte Name des Tieres geben diesem Text sein ganz eigenes, hektisch-skandiertes Gepräge. Isabella Santacroce hatte druckfrisch ihren dritten Roman Luminal nach Stuttgart mitgebracht und las die Anfangsseiten. Im deliranten Rhythmus von Popmusik und Drogenrausch entwickelt sich ein Bild individueller Gegenwartserfahrung, die von flüchtigen Begegnungen und einer rasanten Abfolge unterschiedlichster Sinnesreize geprägt ist. Bla Bla Bla ist der bezeichnende Titel von Giuseppe Culicchias drittem Roman, aus dem er einige Abschnitte vorstellte. Die Beton-Architektur der 70er Jahre findet in diesem Text ihr literarisches Gegenstück in einer Sprache, die mit dem Ausdruckspotential von Gerüchen, Farben und Lichtverhältnissen ein Klima erzeugt, wie es in derartigen Gebäuden alltäglich zu erleben ist.

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Isabella Santacroce, Giuseppe Culicchia.

Am Nachmittag standen die Autoren für Fragen aus dem Publikum zur Verfügung. Sie betonten, daß die Entscheidung für das Literatendasein von einer Vielzahl von Faktoren bestimmt werde, so daß eine Geschichte unter dem Titel „Wie wurde ich Schriftsteller“ nicht erzählbar sei. Deutlich wurde zudem, daß der Begriff Intertextualität um neue Dimensionen erweitert werden muß, um literaturwissenschaftlich noch tauglich sein zu können. Wie ein humanistisch gebildeter Autor Zitate aus altgriechischen Tragödien in seinen Text einflicht und wie Isabella Santacroce mit den Markennamen von Turnschuhen oder den Titeln von Manga-Comic-Serien arbeitet, muß beschreib- und vergleichbar bleiben.

Ein weiteres zentrales Thema der Autoren ist die Popmusik. Sie kommt dem „Wunsch nach Sinn“ (Mozzi) dadurch entgegen, daß sie sinnlos anmutenden Texten einer medial überfluteten Welt zumindest noch einen Rhythmus einzuschreiben vermag. „Musik ist Bewegung, ist Tanz, ist etwas, das Dir nicht gehört, trotzdem aber in Dir ist“, erklärte Isabella Santacroce und brachte damit zum Ausdruck, wie die Musik den Autoren der 90er Jahre ein Repertoire formaler Muster zur Verfügung stellt. Damit geht die Bedeutung des gesungenen oder gesprochenen Wortes einher, die in den Texten durch die häufige Aufnahme der Umgangssprache betont wird. Wörter werden oft zu rhythmischen Klängen angeordnet (Culicchia), in denen nurmehr die authentische Erfahrung vom Verlust der Authentizität einer massenmedial abgenutzten Sprache ihren Niederschlag findet. Nicht-narrative Textcollagen, wie Tiziano Scarpas Beitrag zur Anthologie Il '68 di chi non c'era, werden so zum Ausdruck der Erkenntnis, daß die Bedeutung des einzelnen Wortes in der medial vervielfachten Masse der Wörter zunehmend untergeht.

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Tiziano Scarpa.      (Fotos: Knöller)

Die Literatur wird in den Texten der nuovi selvaggi (der »Neuen Wilden«) zugleich in den Rang einer Ausdrucksform erhoben, die sich aus sich selbst heraus legitimiert. Der Schriftsteller ist keine institutionalisierte Instanz, wird von Publikum und veröffentlichter Meinung aber immer wieder zur Beurteilung von Gegenwarts-phänomenen aufgerufen. Auf ihre Weise stellen sich die italienischen Jungautoren dieser Herausforderung und jeder hat seine eigene Art entwickelt, Stellung zu den Phänomenen zu beziehen, die unsere Gegenwart prägen.
Noch ist die deutsche Verlagslandschaft nicht auf diese eigenwillige italienische Schriftstellergeneration aufmerksam geworden, so originell und interessant ihre Texte auch sind. Von den in Stuttgart vorgestellten Autoren liegt einzig von Giuseppe Culicchia der Roman Knapp daneben als dtv-Taschenbuch vor. Des weiteren finden sich Textausschnitte von GiulioMozzi, Aldo Nove, Isabella Santacroce und Tiziano Scarpa in der bei Wagenbach erschienenen Anthologie Italia fantastica. Hier gäbe es für die deutschen Leser sicherlich noch viel mehr zu entdecken!

F. Janowski/H. Grote

KONTAKT
Hans Grote, M.A., Abteilung Romanische Literaturen II, Keplerstr. 17, 70174 Stuttgart, Tel. 0711/121-3112, Fax 0711/121-2819; e-mail: hans.grote@po.uni-stuttgart.de.

 


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Pressestelle der Universität Stuttgart

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