Home           Inhalt
Stuttgarter unikurier Nr.80/November 1998
Auf dem Weg zu einem produktiven Dialog:
Stadt und Universität
 

Wenn der Sozialwissenschaftler Roland Barthes von der Fülle als Charakteristikum der europäischen Stadt spricht, meint er die Begegnung von politischer Macht, Spiritualität, Geld und Sprache an einem Ort. Die Universitäten, die ursprünglich nur aus vier Fakultäten - der Künste, Medizin, Theologie und Rechtswissenschaft - bestanden, entwickelten sich vom 13. Jahrhundert an als integrierte Institutionen der mittelalterlichen Stadt. Ihre Beziehung zur Obrigkeit blieb jedoch ambivalent. Zwar schuldete man ihnen Ansehen, weil sie die städtische Elite formten, doch hat man ihnen lange nicht verziehen, daß ihre Gründung ein Akt der Selbstbehauptung ortsfremder Studenten gegen die Stadtbehörden war. Der französische Historiker Jacques le Goff stellt fest, daß selbst Universitäten mit großem Prestige die angestrebte Autonomie gegen Kirche, Stadt und Staat lange nicht verwirklichen konnten.

kleinbal.gif (902 Byte)
 

In diesem Spannungsverhältnis befinden sich Universitäten und Stadtgesellschaft – wenn auch aus anderen Gründen – noch heute: Auf der einen Seite hält man Universitäten für unentbehrlich, weil sie den Sprung von der Industriegesellschaft des 20. Jahrhunderts zur „Wissens- oder
Ideenökonomie“ des 21. Jahrhunderts unterstützen. Denn Wachstum verspricht in den nächsten Jahrzehnten vor allem jener Teil des expandierenden Dienstleistungssektors, der forschungsnah organisiert ist und sich mit der Entwicklung neuer Verfahren, Organisationskonzepte und künstlicher Intelligenz befaßt. Auf der anderen Seite geht die Stadtgesellschaft auf Distanz, wenn kritische Töne aus der Alma Mater herausdringen und die ausgetretenenPfade der gesellschaftlichen Konventionen verlassen werden.
Kann es in einer globalisierten Welt überhaupt noch ein produktives Verhältnis von Stadt und Universität geben? Wir leben in einer Zeit des Outsourcing. Wie ein zu stark gewachsenes Unternehmen geben die Städte immer mehr Einrichtungen an das Umland ab. Großflächiger Einzelhandel, Entertainmentcenter und Unternehmenszentralen siedeln schon lange nicht mehr in den Stadtzentren, sondern bevorzugen Standorte an der Peripherie. Wenn Homebanking und Teleshopping Allgemeingut geworden sind, können sich auch Bankzentralen und Warenlieferanten einen Standort weit draußen suchen. Schon heute ist erkennbar, daß der Verlust für die Innenstädte substantiell ist. Denn die Verarmung der Nutzungsvielfalt wird begleitet von einer Veränderung der Machtverhältnisse. In einer zunehmend globalisierten Welt werden die Geschicke der Stadtgesellschaft immer mehr auf der suprakommunalen Ebene entschieden. Nicht nur ewige Pessimisten befürchten, daß die Stadt politisch, kulturell und räumlich in nicht mehr begreifbaren Stadtregionen aufgeht.
Die Universitäten sind keine Ausnahme. Mit wachsenden Studentenzahlen wanderten auch sie an den Stadtrand ab, wie zum Beispiel in Aachen oder Tübingen. Neugründungen der 60er und 70er Jahre wie etwa Campus-Universitäten in Bielefeld und Bochum suchten ihren Standort gleich an der Peripherie.

Bipolare Lösung ideal für die Universität Stuttgart
Es ist schwer zu sagen, wie es um die Universität Stuttgart heute bestellt wäre, wenn die von Bonatz 1931 und 1941 geplante Auslagerung nach Degerloch oder der von Döcker geplante Innenstadt-Campus Wirklichkeit geworden wären. Mir erscheint die bipolare Lösung in der sich dramatisch verändernden Stadtlandschaft geradezu ideal. So blieb der Innenstadt ein wichtiger kultureller Baustein erhalten, der den Alltag wie das kulturelle Leben auf vielfältige Weise bereichern kann. Die Universität ist in der Stadtmitte präsent, ohne daß diese mit den Problemen einer rapide wachsenden Großstruktur belastet würde. Entfaltungsmöglichkeiten bietet der Pfaffenwald. Daß der Campus in Vaihingen kein städtebaulicher Selbstläufer ist, liegt auf der Hand. Es muß noch manches getan werden, bis er zu einer echten Wissenschaftsstadt wird - vielfältig, lebendig und innovationsfördernd. Aber das steht auf einem anderen Blatt.

Universität kann Wege aufzeigen
Die Wachstumsbranchen der Wissensökonomie als Symbiose von Forschung, Wissensvermittlung und Ökonomie werden die Universität von der Peripherie ins Zentrum rücken. Darin besteht eine große Chance für beide Seiten. Die ausufernde Stadtlandschaft braucht eine Mitte, mit der sich ihre Menschen identifizieren können, wenn sie nicht das Schicksal amerikanischer Städte mit ihren verödeten und verfallenen Zentren ereilen soll. Wenn die Universität sich verantwortlich fühlt für die Stadt, wird sie mehr sein als eine öffentliche Einrichtung gemäß Flächennutzungsplan. Mit ihren Wissenschaftlern und Gästen kann sie einen kommunikativen Ort mitten in Stuttgart gestalten, an dem die Zukunftsfragen der Stadtregion und der Gesellschaft diskutiert werden, ein Ort, an dem Ideen und Alternativszenarien zur herrschenden Meinung willkommen sind. Als unabhängige Instanz kann die Universität Wege aufzeigen zur Wiedergewinnung einer lebendigen Stadtgesellschaft, zu einer stadt- und umweltverträglichen Mobilität, für eine effiziente Nutzung der nicht erneuerbaren Ressourcen - um nur einige Handlungsfelder aus meinem Arbeitsbereich zu nennen.
Die interdisziplinäre Zusammenarbeit bei der Formulierung des Memorandums der geplanten Internationalen Bauausstellung, das mit dem Verband Region Stuttgart entworfene Forschungsprojekt über eine Interaktive Infrastrukturplanung oder die vom früheren Prorektor Olshausen gebündelten Beitrage zum Projekt Stuttgart 21*) sind Beispiele, in der die Universität sich mit den Möglichkeiten ihrer interdisziplinären Struktur an der Lösung der Zukunftsaufgaben in Stadt und Region beteiligt. Hier entsteht ein produktiver Dialog, in dem die Universität sich den Zukunftsaufgaben Stuttgarts stellt - engagiert und unabhängig.

Franz Pesch

 


last change: 02.03.99 / gh
Pressestelle der Universität Stuttgart

Home           Inhalt