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Stuttgarter unikurier Nr.80/November 1998
Projekt zur Verkehrsentwicklung in Schwellenländern:
Do ITEM - Mobilität ist planbar
 

Welche Folgen eine ungelenkte Verkehrsexplosion anrichten kann, ist heute in zahlreichen Großstädten weltweit zu besichtigen. In den sogenannten Schwellenländern gibt es immer mehr Regionen, in denen die Wachstumsraten von Wirtschaft, Stadtentwicklung und Verkehrsaufkommen ähnliche Folgen befürchten lassen. Die Verkehrsentwicklung in der südchinesischen Stadt Nanjing stand beispielhaft im Zentrum des internationalen Projekts ITEM (Integriertes Transport- und Entwicklungsmodell), dessen erklärtes Ziel die langfristige Planbarkeit von Mobilität ist. „Wir verstehen Verkehr als ein vernetzes System“, sagte Herbert Grünwald, Geschäftsführer der Dornier SystemConsult, bei der Vorstellung der ersten Projektergebnisse im Juli diesen Jahres im Internationalen Begegnungszentrum der Universität Stuttgart. Wissenschaftlich wurde das Projekt von Prof. Dr. Wolfgang Weidlich vom Institut für Theoretische Physik II der Universität Stuttgart und von Prof. Günter Haag vom Steinbeis-Transferzentrum für Angewandte Systemanalyse getragen. Die Finanzierung des Projektes erfolgte über ein neues Instrument der Forschungsförderung: das Wissenschaftssponsoring (siehe Kasten).

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„Physiker haben sich als erste mit der Entstehung von Staus befaßt“, stellte Prof. Weidlich bei der Präsentation fest und unterstrich damit, daß ein Institut für Theoretische Physik und Anwendungsfragen gut zusammenpassen. Das am Stuttgarter Institut für Theoretische Physik II entwickelte Modell der Soziodynamik habe seine Funktionalität bereits in vielen Bereichen, unter anderem auch für die Stadtentwicklung, unter Beweis gestellt. So sei etwa die Siedlungsentwicklung entlang der Autobahn Stuttgart-Singen auch mit dem Modell der Stuttgarter Physiker berechnet worden, etwa daraufhin, welche Rückwirkungen die Verkehrsentwicklung auf die Standortbedingungen hat.

Neues Förderinstrument:
Wissenschaftssponsoring

Wissenschaftssponsoring, also die finanzielle Förderung wissenschaftlicher Projekte durch einen Sponsor, der dafür die Rechte der Außendarstellung des Projektes erhält, ist ein noch wenig bekanntes Instrument zur Forschungsförderung. Das Nanjing-Projekt war deshalb nicht nur in wissenschaftlicher Hinsicht ein erfolgreiches Novum.„Mit dem Wissenschaftssponsoring hatten wir an der Universität Stuttgart noch keine Erfahrungen“, stellte Prof. Weidlich anläßlich der Vorstellung des Projektes im Juli diesen Jahres fest (siehe nebenstehenden Beitrag). „Nach knapp zwei Jahren kann man aber sagen, daß die Zusammenarbeit uneingeschränkt positiv zu bewerten ist.“ Auch für den Sponsor, die Daimler-Benz AG, ist nach Aussage von Dr. Uli Kostenbader, Leiter des dortigen Kompetenz-Zentrums für Ökologie-, Wissenschafts-, Kultur- und Sozialsponsoring, das Wissenschaftssponsoring „ein relativ neues Instrument der Forschungs- und Kommunikationspolitik“. Direkte Forschungsaufträge oder Spenden sind die wichtigsten Förderinstrumente. Für das Wissenschaftssponsoring liegen derzeit bundesweit nicht einmal konkrete Zahlen vor. Schätzungen zufolge werden in Deutschland ungefähr 500 Mio. Mark im Jahr für diesen Zweck ausgegeben. Dies ist im Vergleich zu den 3,5 Mrd. Mark Sponsorenmitteln für Sport und Kultur noch eine bescheidene Summe.
Beim Wissenschaftssponsoring besteht die Gegenleistung für die Unterstützung wissenschaftlicher Projekte in der Übertragung der kommunikativen Nutzung des Projektes an den Förderer. Das Projekt muß also vor allem dem vorhandenen oder aufzubauenden Image der fördernden Einrichtung entsprechen. Deshalb stellt das Nanjing-Projekt für Daimler-Benz eine wichtige Maßnahme dar, um den Wandel vom Fahrzeughersteller zum Mobilitätskonzern zu unterstreichen. „Das sicherste, komfortabelste und auch zu hundert Prozent abgasfreie Auto bringt nur sehr begrenzten Nutzen, wenn es immobil im Stau steht“, hatte Herbert Grünwald bei der Vorstellung des Projektes formuliert. „Wissenschaftssponsoring kann so“, ergänzte Dr. Uli Kostenbader, „einerseits strategische Unternehmensentscheidungen stützen, aber auch Fingerzeige geben, wie sich Umfeldbedingungen verändern und welche Konsequenzen sich für das Unternehmen daraus mittel- bis langfristig ergeben können.“    eng

Auch die für das Nanjing-Projekt erarbeitete Szenario-Simulation sei, so stellte Prof. Weidlich als ein erstes Zwischenergebnis fest, auf andere Regionen übertragbar. „Die statistisch ermittelten Testzahlen und die empirisch erhobenen Daten passen zueinander“, erläuterte Prof. Günter Haag vom Transferzentrum für Angewandte Systemanalyse in Stuttgart.
International ist die Zusammensetzung der ITEM-Projektpartner: neben Prof. Weidlich und Prof. Haag sind im wissenschaftlichen Bereich Prof. Dr. Frank Englmann (Universität Stuttgart), Prof. Dr. Yury Popkov (Akademie der Wissenschaften in Moskau), Prof. Dr. Peter Nijkamp (Free University of Amsterdam) und Prof Dr. Aura Reggiani (University of Bologna) beteiligt. Zudem stehen der Nobelpreisträger Prof. Dr. Iljia Prigogine und der Stuttgart Physiker Prof. Dr. Hermann Haken als Berater zur Verfügung. Das benötigte Datenmaterial stammt von der Southeast University of Nanjing.
Die Auswahl der chinesischen Stadt Nanjing für das internationale Forschungsprojekt erfolgte vor dem Hintergrund, daß bis zum Jahr 2000 mehr als die Hälft der Erdbevölkerung in Städten leben wird, der Großteil davon in Megastädten von Ländern, die an der Schwelle zur Industrialisierung stehen. Nanjing liegt an dem Fluß Yangtse, etwa 300 Kilometer westlich von Shanghai. Die Stadt hat mit 5,22 Mio. Einwohnern in der Region, dem größten Überseehafen Chinas, einer der wenigen Brücken über den breiten Yangtse und dem im Bau befindlichen neuen Flughafen als Verkehrsknotenpunkt eine besondere Bedeutung.
Stadt und Umgebung wurden für das Projekt mathematisch in 94 unterschiedlich große, in sich aber möglichst homogene Verkehrszellen unterteilt, zwischen denen meßbare Beziehungen bestehen, wie Wohnviertel, Industriegebiete, Erholungszonen etc. Die Beziehungen und Wechselwirkungen zwischen den Verkehrszellen lassen sich je nach unterstellter Entwicklung mathematisch modellieren und nach empirischen Tests auch für zukünftige Szenarien einsetzen, erläuterte Prof. Günter Haag.

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In das mathematische Modell ITEM gehen die Verkehrsströme zwischen den
94 Zellen im Stadtgebiet ein. (Foto: Daimler-Benz)

Die Ergebnisse dieser Szenarienrechnungen werden zum Abschluß des Projektes den chinesischen Partnern übergeben werden. „Keinesfalls wollen wir aber als Besserwisser auftreten“, betonte Prof. Haag. „Vielmehr wollen wir ihnen Entscheidungshilfen an die Hand geben, mit denen sie im Hinblick auf die Verkehrsentwicklung unterschiedliche Optionen für die zukünftige Stadtentwicklung besser beurteilen können.“
Für die Planer vor Ort stehe mit ITEM eine wertvolle Entscheidungsunterstützung bereit, erläuterte Prof. Weidlich. Es sei in dem Projekt deutlich geworden, daß eine Nutzungsmischung der Entstehung von Verkehrsproblemen entgegenwirke und daß Verkehrs- und Stadtentwicklung stets zusammen betrachtet werden müssen. Am Beispiel Nanjing sei aber auch deutlich geworden, daß in dieser spezifischen Region trotz dringend auszubauenden öffentlichen Nahverkehrs und dem ebenfalls ausgeprägten Wunsch nach dem eigenen Auto das Fahrrad weiterhin ein wichtiger Verkehrsträger sein wird und sein sollte.     eng

KONTAKT
Prof. Dr. Wolfgang Weidlich, Institut für Theoretische Physik II, Pfaffenwaldring 57, Tel.: 0711/685-4926, Fax: -4902, e-mail: office@theo2.physik.uni-stuttgart.de

 


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Pressestelle der Universität Stuttgart

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