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Stuttgarter unikurier Nr.79/Juni 1998
Ein Blick hinter die Kulissen der Kapazitätsrechnungen:
Die Universität gibt den Zehnten
 

Zehn Prozent ihrer Stellen muß die Universität Stuttgart streichen, um den Solidarpakt zu erfüllen. Zehn Jahre hat sie dafür Zeit. Sie strebt an, diese Vorgabe strukturgerecht umzusetzen. Wie der Prorektor für Struktur, Prof. Holger Jeske, im Uni-Kurier 77/78 vom Februar dieses Jahres schreibt, „kann die hierzu erforderliche sachliche Auseinandersetzung nur erreicht werden, wenn jedes Mitglied der Universität weiß und überprüfen kann, nach welchen Kriterien gehandelt wird". Zu dieser Transparenz soll der folgende Text von Prof. Burkhard Kümmerer beitragen; der Mathematiker begleitet im Auftrag des Rektorats die Kapazitätsrechnungen*).

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Die Vorgeschichte
Die verantwortlichen Gremien haben beschlossen, daß die Auslastung der Lehrkapazität als zentrales Kriterium in die Berechnung der Streichlast eingehen soll. Ursprünglich sollte diese Auslastung in enger Anlehnung an die gesetzlichen Kapazitätsrechnungen ermittelt werden. Diese sind jedoch in verschiedenen Punkten korrekturbedürftig. Bei einer Analyse der vorgeschlagenen Verbesserungen stellte ich im Frühjahr 1997 fest, daß sich eine Auslastung ergab, die proportional mit dem Quadrat der Studentenzahl wuchs, sich also bei doppelter Studentenzahl vervierfachte. Dieser Vorschlag konnte nicht die Zustimmung der Universität finden.

Es folgte eine Zeit intensiver Arbeit, die zu einer ersten Berechnung der Auslastung führte. Auf der Basis dieser Berechnung, der im Sommer 1997 alle beteiligten Gremien zustimmten, wurde die Streichlast für das erste Jahr berechnet. Eine Reihe wünschenswerter Verbesserungen konnten damals in der Kürze der Zeit und aufgrund fehlender Daten noch nicht berücksichtigt werden. Zur Zeit wird eine erweiterte Rechnung vorbereitet.

 

Das Verfahren im Überblick
Im Zentrum aller Rechnungen steht die „Kapazität". Sie wird in der Einheit „Semesterwochenstunden" (SWS) ausgedrückt: Ein Professor entspricht meist 8 SWS, ein Assistent 4 SWS, und so weiter. Das Verfahren ist dreistufig:

1. Bestimmung des Anteils „KIst": Hier wird gefragt, wieviel Kapazität in einer Fakultät ausschließlich der Lehre zur Verfügung steht: Von der insgesamt vorhandenen Kapazität werden Beiträge für Forschung (gegenwärtig berechnet aus den eingeworbenen Drittmitteln) und andere Leistungen (gegenwärtig Funktionsstellen) abgezogen.

2. Kapazitätsrechnung: In diesem Schritt wird die Größe „KSoll" berechnet. Sie gibt an, wieviel Kapazität einer Fakultät für die ihr zugewiesenen Lehraufgaben und unter Berücksichtigung der Zahl der vorhandenen Studierenden eigentlich zustünde. Den Quotienten KSoll/KIst wird man sinnvollerweise als „Auslastung" (der Lehrkapazität) bezeichnen.

3. Kürzungsrechnung: Aus KIst und KSoll wird für jede Fakultät die Streichlast berechnet. Die Kürzungen sollen so durchgeführt werden, daß die Fakultäten anschließend gleichmäßiger ausgelastet sind.

Die folgenden Ausführungen sollen die Grundidee der Kapazitätsrechnungen verdeutlichen.

 

Der Curricularwert
Der Gesetzgeber führte in die Kapazitätsrechnung den Begriff des Curricularwertes (CW) ein. Er gibt an, wieviele Semesterwochenstunden Lehrkapazität ein Student oder eine Studentin rechtfertigt. Der Curricularwert hat also die Einheit SWS pro Student.

Die Größen Kapazität, Curricularwert und Studentenzahl sind verbunden durch die Grundformel:

Kapazität = CW x Studentenzahl.

Betrachten wir zum Beispiel einen Studiengang von neun Semestern mit einem Curricularwert von 4,3. Werden alle Lehrleistungen für diesen Studiengang von einer Fakultät erbracht, so kann diese Fakultät hierfür die Lehrkapazität: KSoll= 4,3 x (Studentenzahl)/9 für sich beanspruchen. Der Faktor 1/9 berücksichtigt, daß in einem Semester durchschnittlich nur 1/9 der gesamten Ausbildung stattfindet.

 

Zur Kapazitätsrechnung
Einige Probleme fallen sofort ins Auge: Wie setzt man den CW eines Studienganges fest? Wie werden Export und Import von Lehrleistungen zwischen den Fakultäten berücksichtigt? Aber auch: Wie berücksichtigt man Schwund durch Studienabbrecher? Über wieviele Jahre sollen Studierendenzahlen gemittelt werden, um kurzfristige Schwankungen zu glätten?

Einiges läßt sich in proportionalen Rechnungen gar nicht erfassen: Zum Beispiel müssen wichtige Vorlesungen auch für wenige Studierende gehalten werden; geringe Auslastung bedeutet also nicht unbedingt geringe Belastung. In der gebotenen Kürze werden hier beispielhaft einige Ansätze skizziert.

Die Rechnung kann flexibler gestaltet werden, wenn jede Lehrveranstaltung getrennt bewertet wird. Jede vorgeschriebene Veranstaltung erhält einen „partiellen Curricularwert" (pCW). Handelt es sich um eine Vorlesung oder ein Seminar, so legt eine „Gruppengröße" fest, bei welcher Teilnehmerzahl die Veranstaltung als ausgelastet gilt. Daraus errechnet sich der partielle Curricularwert zu pCW = Zahl der SWS/Gruppengröße. Nehmen an einer Vorlesung alle Studierenden eines Jahrganges teil, so könnte man die Gruppengröße auf 100 festsetzen. Wählen die Studierenden aus einem vorgeschriebenen Angebot von sechs Vorlesungen drei aus, so ergäbe sich für eine solche Vorlesung eine Gruppengröße von 50. Erfordert ein Praktikum für je zehn Teilnehmer (Gruppengröße) die ständige Anwesenheit einer festangestellten Lehrperson für drei Stunden pro Woche, so ergibt sich der pCW entsprechend. Diese Rechnungen werden weiter verfeinert; zum Beispiel geht der Aufwand für die Vorbereitung ein.

Aus den partiellen Curricularwerten errechnen sich partielle Soll-Kapazitäten für die Veranstaltungen. Die gerechtfertigte Lehrkapazität KSoll einer Fakultät ist die Summe ihrer partiellen Soll-Kapazitäten. An dieser Stelle kann man den Import-Export berücksichtigen und dafür Sorge tragen, daß für einen Studiengang unabhängig von der Studentenzahl auf jeden Fall die minimal notwendige Lehrkapazität zur Verfügung steht. Der zulässige Ausbau von Wahlfächern richtet sich jedoch nach der Auslastung durch Studierende.

 

Zur Kürzungsrechnung
Sind für jede Fakultät die Größen KIst und Ksoll - und damit ihre Auslastung - bekannt, muß schließlich ermittelt werden, welche Kürzungen auf die einzelnen Fakultäten zukommen. Aufgrund von Senatsbeschlüssen soll dies so geschehen, daß insgesamt 14 Prozent der Personalstellen eingespart werden. Je nach Auslastung sollen die Fakultäten zwischen 7 und 21 Prozent streichen. Die Details dieser Rechnung sind in meinem „Beitrag zu Berechnung und Reduktion von Kapazitäten an einer Universität" beschrieben.

 

Wie geht es weiter?
Die Entwicklung und Anpassung an die Realität eines so umfangreichen Modells ist nur in einem dynamischen Prozeß möglich. Zur Zeit wird eine Reihe von Verbesserungen angestrebt, etwa die Sicherung von Minimalkapazitäten, die Berücksichtigung von Prüfungsleistungen, die Einbeziehung von Rechnungen auf Instituts- statt nur auf Fakultätsebene oder die Verwaltung der zugrunde liegenden Daten in einem adäquaten Datenbanksystem. Auch die Vergleichbarkeit der Angaben der verschiedenen Fakultäten kann noch verbessert werden.

Alle Entwicklungen orientieren sich an einem leitenden Prinzip: Die Rechnungen sollen durchsichtig und für jeden Interessierten nachvollziehbar sein und ausschließlich auf allgemein zugänglichen, dokumentierten Daten beruhen. Nur so lassen sich die schmerzlichen Kürzungen in allgemeinem Konsens durchführen.

Burkhard Kümmerer

 

*) Siehe dazu auch den Beitrag „Abstrakt - und darum anwendbar" in der Rubrik „Wissenschaft & Praxis".

KONTAKT
Prof. Dr. Burkard Kümmerer, Arbeitsgruppe Operatorenalgebren und Quantenstochastik am Mathematischen Institut A, Pfaffenwaldring 57, 70569 Stuttgart, Tel. 0711/685-5364, Fax 0711/685-5375
e-mail: kuem@mathematik.uni-stuttgart.de

 


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Pressestelle der Universität Stuttgart

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