Home           Inhalt
balken.gif (998 Byte)
Stuttgarter unikurier Nr.79/Juni 1998
Internationales Kolloquium „Kryptogrammatik II":
Strategien des Geheimen in der kulturellen Kommunikation
 

Im Rahmen des interdisziplinären Kolloquiums „Kryptogrammatik II - Translatio und Passio: Archäologie des verschrifteten Subjekts" trafen sich im Dezember 1997 Philosophen, Kultur-, Literatur- und Religionswissenschaftler aus dem In- und Ausland in der Akademie Schloß Solitude, um die Rolle des Heiligen und des Geheimen in der Konstitution von Kultur zu erörtern. Das Kolloquium wurde im Rahmen des Forschungsprojekts „Ursprünge der Moderne" vom Internationalen Forschungszentrum Kulturwissenschaften (Wien) und dem Zentrum für Kulturwissenschaften und Kulturtheorie der Universität Stuttgart organisiert. Eine erste Tagung fand im Juni 1996 in Wien statt; Leiterin beider Kolloquien war Prof. Elisabeth von Samsonow (Akademie der bildenden Künste, Wien).

kleinbal.gif (902 Byte)
 

In ihrem Eröffnungsbeitrag beschrieb Elisabeth von Samsonow den Übergang von der Kryptologie zur Kryptogrammatik als die Verdrängung einer ursprünglichen Heiligkeit: Statt einem „schwarzen Loch" an absoluter Unzugänglichkeit ließen die kulturellen Landvermesser der Neuzeit nur noch „weiße Flecken" auf der kognitiven Karte des Wissens zu. Henry Krips (Pittsburgh) analysierte das Fortbestehen des Heiligen im Unheimlichen in psychoanalytischer Hinsicht. Das Heilige rühre immer auch an den Urängsten des Menschen, etwa als Furcht vor der Maske, hinter der sich nichts verbirgt. Statt auf die Tiefenstrukturen des Geheimen setzte Peter Sloterdijk (Karlsruhe) den Akzent auf die Horizontalität: Die kartographische Erfassung der Oberflächen (in Landkarten oder photographischen Verfahren) verlege das Geheimnis vom Raum in die Zeit. Das Abenteuer liege seither in der Beschleunigung von Entdeckungsreisen - allerdings auf Kosten der Heiligkeit, da es dann kein gänzlich Verborgenes mehr geben könne. Im Anschluß an Cassirer definierte Reinhard Margreiter (Berlin) in seiner Deutung der Mystik das Heilige in medientheoretischer Sicht als Implosion des Symbolischen.

 

Doppelte Rolle der Schrift
Anhand von Beispielen aus der Kulturgeschichte zeigten Moshe Idel (Jerusalem) und Jan Assmann (Heidelberg) die doppelte Rolle der Schrift in kultischen und religiösen Texten. Die jüdische Kabbala kannte nach Idel zwar den Übergang von esoterischen zu exoterischen Methoden, das umkreisende Prinzip der Entzifferung hatte aber nie die Funktion, Geheimnisse zu lüften, vielmehr war die kabbalistische Geheimschrift selbst der Garant der Präsenz des Heiligen. Daß der performative Charakter der Schrift in der rituellen Lektüre auch die Funktion einer sozialen Differenzierung haben kann, zeigte Jan Assmann am Beispiel von ägyptischen Rezitationstexten. Die absichtliche Verklärung erlaube den Beteiligten verschiedene Lesarten entsprechend dem Grad ihrer Eingeweihtheit. Was vom Volk als einfache Allegorie gelesen wird, erfahre der initiierte Priester als Aufhebung seiner Person: Das Vortragen bewirkt das Einswerden des Vortragenden mit dem Geheimnis selbst.

 

Strategien des Geheimen
Strategien des Geheimen dienen aber nicht nur in den älteren Kulturen der Intensivierung von Kommunikation. Sie sind auch in der Literatur unseres Jahrhunderts aufzeigbar. Anhand der Translationen chinesischer Schriftzeichen bei V. Segalen und H. Michaux zeigte Gisela Febel (Stuttgart), wie die scheinbare Unlesbarkeit und die kulturelle Differenz zur Reflexion von Selbstdeutung und Selbstentfremdung genutzt wird. Indem das Subjekt sich selbst unverständlich wird, erziele es Intensität in der ästhetischen Selbsterfahrung. Thomas Macho (Berlin) analysierte Wittgensteins verschlüsselte Tagebücher als kryptogrammatische Textur: auch Wittgenstein suche in der Verdoppelung seines Tagebuch-Ichs per Selbstreflexion zum Geheimnis seiner eigenen Person vorzudringen. Er verfaßte bestimmte Passagen seiner Aufzeichnungen in einer Geheimschrift, um darin den Genius seines alter ego sprechen zu lassen. Die Kryptogrammatik erweist sich offenbar als der Ort, an dem die konstitutive Funktion des Geheimen und des Heiligen für die Konstruktion eines Subjekts und die Entstehung von Kommunikation auch in unserer Kultur sichtbar wird.

 

Hermes und Mars
Als Urvater der Kryptogrammatik mag Hermes gelten, der seine Botschaften nur selektiv überbrachte und die Welt damit in Wissende und Unwissende teilte, oder auch der Kriegsgott Mars, der nicht nur das Nachrichtenwesen, sondern auch die Geheimhaltung erfand.

A. Geiger

 


last change: 09.06.98 / eng
Pressestelle der Universität Stuttgart

Home           Inhalt