bild-mit-logo
unilogo Universität Stuttgart
Presse- und Öffentlichkeitsarbeit

Uni-Kurier >>>> Forschen >>>>

 
 

Studie zu sozialen Ursachen von Übergewicht und Adipositas abgeschlossen   >>>>>>>>>>>>>>>>>>

Zerfallende Familien – dicke Kinder?

Statt übergewichtigen Kindern und Jugendlichen (meist erfolglos) Verhaltensänderungen aufzuzwingen, sollte den Rahmenbedingungen für Überernährung und passiv-konsumtive Freizeitgestaltung entgegengewirkt werden. Zu diesem Ergebnis kommen Wissenschaftler des Instituts für Sozialwissenschaften der Uni in einer fünfjährigen Studie zu den sozialen Ursachen von Übergewicht und Fettleibigkeit bei Kindern und Jugendlichen. Um den Speck wirksam zu bekämpfen, ist radikales Umdenken gefordert.

Die Ursachen der „juvenilen Adipositas“ werden meist auf ein individuelles Fehlverhalten zurückgeführt: Zu viel, zu fett, zu süß, zu wenig Bewegung, so die gängige These, und das Übergewicht sei programmiert. „Zu kurz gesprungen“, sagt Dr. Michael Zwick von der Abteilung Technik- und Umweltsoziologie. Dicke Kinder sind vielmehr eine Folge der gesellschaftlichen Modernisierung. Im Rahmen des vom Bundesministerium für Bildung und Forschung geförderten und von zahlreichen Partnern unterstützten Projekts unter der Federführung von Prof. Ortwin Renn wurden über 50 Einzelursachen für Übergewicht und Fettleibigkeit identifiziert. Als zentrale Bedingungen kristallisierte sich ein Zusammenspiel von drei Faktoren heraus: Zu den individuellen Dispositionen und Gewohnheiten gesellen sich die Lebensbedingungen einer Überflussgesellschaft, in der einerseits energiereiche Lebensmittel jederzeit zur Verfügung stehen und andererseits eine Vielzahl technischer Produkte es ermöglichen, den Alltag ohne große Kraftanstrengung zu bewältigen. Verschärft wird das Problem nicht selten durch ein familiäres Umfeld, das Kinder und Jugendliche nur unzureichend auf diese Lebensbedingungen vorbereitet. „Was die Kinder in Anbetracht der hoch technisierten Überflussgesellschaft vor allem brauchen, ist die Fähigkeit, kompetente Entscheidungen zu treffen und diese regelgeleitet – und wenn nötig selbstdiszipliniert – zum Wohle ihrer Gesundheit umzusetzen. Diese Fähigkeiten werden normalerweise im Elternhaus erlernt“, so Zwick.

Fettes Essen Der Strukturwandel seit den 1970er Jahren habe allerdings zu wachsenden Erziehungsdefiziten geführt, sei es durch auseinander fallende Familien, durch die berufsbedingte Abwesenheit der Eltern oder auch nur durch asynchrone Zeitabläufe der einzelnen Familienmitglieder. Dies hat zur Folge, dass Kinder oft sich selbst überlassen sind. „In den betroffenen Familien isst jeder, salopp gesagt, wann, wo und was er will, und die Freizeitgestaltung folgt dem selben Muster“, so Zwick. Dabei genießt die Nutzung der Medien bei vielen Kindern und Jugendlichen eine weitaus höhere Anziehungskraft als das Spiel im Freien – eine Haltung, zu der auch ein wenig kind- und bewegungsgerechtes Umfeld beitragen kann.Je nach kulturellem Hintergrund kommen spezifische Probleme hinzu. So galt eine Teiluntersuchung türkischstämmigen Familien, deren Kinder besonders häufig übergewichtig sind. Anders als bei den Deutschen sind die Familien hier zumeist intakt und die gemeinsame Mahlzeit spielt noch eine wichtige Rolle.
Fettes Essen macht zwar nicht eben schlank - doch die tatsächlichen Ursachen von Adipositas sind komplexer.
(Foto: Institut)

Was auf den Tisch kommt, ist jedoch ziemlich opulent, und die Ernährung der Kinder folgt dem Prinzip ‚je mehr, desto besser’. Die Freizeit dient in erster Linie der Erholung, nicht der körperlichen Ertüchtigung. In den Herkunftsregionen mit ihren oft harten Lebensbedingungen haben solche Strategien durchaus Berechtigung, und dicke Kinder sind dort eine Rarität. Nach der Migration in eine hoch technisierte Überflussgesellschaft jedoch verspricht die gewohnt schwere, überreichliche Kost, gepaart mit einem passiven, stark medienorientierten Freizeitstil, einen raschen Gewichtszuwachs.
Dass Abmagerungskuren unter diesen ‚adipogenen’ Bedingungen wenig Erfolg versprechen und verlorene Pfunde schnell wieder da sind, liegt auf der Hand. Zudem werden gerade die am Stärksten betroffenen von Appellen und Kampagnen meist gar nicht erreicht und zeigen nur wenig Problembewusstsein. Präventionsmaßnahmen, so die Forderung der Wissenschaftler, müssen deshalb an mehreren Punkten zugleich ansetzen. Dabei gilt: Es ist einfacher, die Rahmenbedingungen, in die eine Handlung eingebettet ist, zu verändern als tief verankerte Gewohnheiten. Deshalb sollten vorrangig solche Maßnahmen Pflicht werden, die die Wahl gesunder Optionen fördern.

Adipöses Kind spielt am Computer Zusätzlich zu vielen anderen Vorschlägen zur Prävention von Übergewicht treten die Forscher denn auch entschieden für die bis heute umstrittene Ampel-Kennzeichnung besonders fett- oder zuckerhaltiger Lebensmittel ein. „Diese Kennzeichnung hat die indirekte Wirkung, dass es sich Firmen nicht leisten können, viele rote Produkte im Regal zu haben und daher von sich heraus auf gesündere Nahrungsmittel umstellen“, erklärt Zwick. Erfahrungen in Ländern wie Großbritannien, in denen die Auszeichnungspflicht nach dem Ampel-Modell vorgeschrieben ist, bestätigen diesen Trend.Ein weiterer Ansatzpunkt ist die bedarfsgerechte Umgestaltung von Wohnquartieren zugunsten attraktiverer Aktivitäten im Freien, beziehungsweise die bedarfsgerechte Schaffung von wohnortnahen Sport- und Spielstätten mit freiem Eintritt für Kinder und Jugendliche. Besonders dringlich sei ferner die Schaffung von dauerhaften Strukturen und Stellen für die Koordination und Vernetzung der zahlreichen Programme, Projekte und Kampagnen, damit Synergieeffekte entstehen und ihre Effektivität sichergestellt werden können. Last but not least gilt es, zu überlegen, welche gesellschaftlichen Institutionen geeignet sind, die familiären Erziehungsdefizite auszugleichen. amg
Ein passiver, medienorientierter Lebensstil verschärft Gewichtsprobleme. (Foto: Institut)


KONTAKT
_________________________________

Dr. Michael Zwick
Institut für Sozialwissenschaften
Tel. 0711/685-83972
e-mail: zwick@soz.uni-stuttgart.de