bild-mit-logo
unilogo Universität Stuttgart
Presse- und Öffentlichkeitsarbeit

Uni-Kurier >>>> Forschen >>>>

 
 

Religiöse Erinnerungsorte in Osteuropa >>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>

Glaubenssymbole mit politischer Kraft

Erinnerungsorte wie das Städtchen Kosovo Polje, wo sich im Jahr 1389 in der berühmten Schlacht auf dem Amselfeld Serben und Osmanen bekämpften, das „Wunder von Bern“ oder die polnische Wallfahrtskirche Tschenstochau legen die Hypothese nahe, dass es neben dem individuellen Gedächtnis des Einzelmenschen auch ein Gruppengedächtnis gibt, das Kollektiverinnerungen besitzt. Wie sich ein solches Kollektivgedächtnis herausbildet, wie es teilweise instrumentalisiert wird und wie es dadurch bis in die Politik der Gegenwart hinein wirkt, untersucht das Historische Institut der Uni Stuttgart am Beispiel religiöser Erinnerungsorte in Ostmitteleuropa.

An der Entstehung, Pflege und medialen Vermittlung kollektiver Memoria sind Politik, Kirche, Wissenschaft und andere Gesellschaftsgruppen beteiligt, und oft genug wird dabei ein historischer Ort oder ein Ereignis für eigene Anliegen in den Dienst genommen. Das östliche Europa erscheint für die Untersuchungen prädestiniert, da die Vielzahl der Religionen und Konfessionen hier einen ganzen Kosmos an Formen religiöser Sinnstiftung im gesellschaftlichen Raum hervorgebracht haben: Geographische Symbole wie die 1335 angelegte Judenstadt Kasimierz bei Krakau, die von den Nationalsozialisten später zum Ghetto gemacht wurde, architektonische Symbole wie den Prager Veitsdom oder real-ideologische wie zum Beispiel die Stephanskrone, Symbol der ungarischen Einheit. Hinzu kommen Wallfahrtsorte wie zum Beispiel das Kloster Trebnitz bei Breslau oder zentrale Zufluchtsorte emigrierter religiöser Gemeinschaften wie der Böhmischen Brüder in Lissa/Leszno. Denkbare Forschungsthemen sind aber auch geistige Orte, wie die Bekenntnisschriften ostmitteleuropäischer Reformatoren, Religionsgespräche oder Toleranzedikte, zum Beispiel die Warschauer Konföderation von 1573.

Variantenreiche Legendenbildung
Besonders interessant für die Erforschung dieser Zusammenhänge sind Erinnerungsorte, die sowohl religiöse als auch politische Symbolkraft haben. Ein Beispiel hierfür ist der Weiße Berg in Böhmen: Hier unterlagen in der ersten entscheidenden Schlacht des Dreißigjährigen Krieges 1620 die protestantischen böhmischen Stände den Truppen der Katholischen Liga, womit das tschechische Trauma begann. Anders verlief die Legendenbildung des polnischen Wallfahrtsort Tschenstochau: Dort zog das Bildnis der wundertätigen Schwarzen Madonna über Jahrhunderte hinweg die Pilgerscharen an und wurde zu einem Symbol kollektiver Erinnerung, das längst auch für den Freiheitswillen der polnischen Bevölkerung steht. „Hierin liegt einer der Gründe, dass der Katholizismus in Polen politisch nie mehr ignoriert werden konnte“, erklärt Prof. Joachim Bahlcke, Leiter der Abteilung Geschichte der Frühen Neuzeit des Historischen Instituts.
pilgerfahrten

Aufruf des Deutschen Polenbundes zu Pilgerfahrten nach Tschenstochau. (Entnommen aus Richard Breyer (Hg.): Nachbarn seit tausend Jahren. Deutsche und Polen in Bildern und Dokumenten.
Von Hase & Kohler Verlag, 1976
)

Nachleben der Orte im Blick
Dass religiöse Erinnerungen auch elementare Bestandteile von Nationen sein können, zeigt das Beispiel der Slawenapostel Kyrill und Method. Das Eintreffen der beiden Missionarsbrüder in Großmähren am 5. Juli 863 wird in Tschechien und der Slowakei auch heute noch als Nationalfeiertag begangen.
Dabei interessieren sich die Stuttgarter Wissenschaftler gemeinsam mit ihren Kooperationspartnern von der Universität Passau und anderen Kollegen besonders für das „Nachleben“ beziehungsweise die „Karriere“ der jeweiligen Orte über die historischen Umstände der Anfangszeit hinaus. So geht beispielsweise der in der Schlacht auf dem Amselfeld begründete Kosovo-Mythos von einem mittelalterlichen Ereignis aus, das jedoch erst im 19. Jahrhundert kollektiv relevant wurde. Endgültig instrumentalisiert wurde diese Erinnerung durch die Ansprache von Slobodan Milosevic anlässlich der Gedächtnisfeier zum 600.

Jahrestag der Schlacht im Jahr 1989, die heute als Fanal zur Diskriminierung der Muslime und als wesentlicher Schritt auf dem Weg in den jugoslawischen Bürgerkrieg gewertet wird.
Die Untersuchungen stehen im Zusammenhang mit einem Handbuch-Projekt, das von der Fachkommission Religions- und Kirchengeschichte im Herder-Forschungsrat unter der Leitung von Prof. Joachim Bahlcke (Stuttgart) und Prof. Thomas Wünsch (Passau) in Zusammenarbeit mit einem internationalen Konsortium an Fachgelehrten realisiert wird. Mit dem Erscheinen ist im Jahr 2010 zu rechnen.                                                                        amg

 

KONTAKT
_________________________________

Prof. Joachim Bahlcke
Historisches Institut
Tel. 0711/685-82341
e-mail: joachim.bahlcke@po.hi.uni-stuttgart.de