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Drama, Theater und Psychiatrie im 19. Jahrhundert >>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>

Schaubühne des Wahnsinns

Hysterie und Wahnsinn ziehen auf den Schauspielbühnen seit dem 19. Jahrhundert das Interesse von Schauspielern und Publikum auf sich. Wie psychische Erkrankungen über die Epochen hinweg inszeniert werden und welche Rückwirkungen dies auf die Wahrnehmung der betroffenen Patienten hat, untersuchte Annette Bühler-Dietrich vom Institut für Literaturwissenschaft im Rahmen ihrer Habilitationsschrift mit dem Titel „Drama, Theater und Psychiatrie im 19. Jahrhundert".

Im Sommer 1870 besucht der württembergische König Karl die Heilanstalt Zwiefalten. Er lässt sich die Räume zeigen und unterhält sich mit den Kranken. Die staatliche Irrenfürsorge stößt in diesem Jahrhundert wiederholt an ihre Kapazitätsgrenzen, Anstaltserweiterungen und Neugründungen sind die Folge, auch in Württemberg. Man bemüht sich, die Situation der Kranken so vorteilhaft wie möglich zu gestalten. Dabei erstreckt sich die öffentliche Aufmerksamkeit auf die Zustände der Krankenpflege, während die Medizin immer neue psychiatrische Krankheitsbilder bestimmt und beschreibt.
Die Aktivitäten in Politik und Ärzteschaft vollziehen sich nicht ohne Aufmerksamkeit von Seiten der Kunst. Im Theater des 19. Jahrhunderts wird die Schaubühne zur psychiatrischen Anstalt. Soweit sie dabei informierend wirken will, enthält sie durchaus Elemente der „moralischen Anstalt“ Friedrich Schillers. Der fragt in seiner Vorlesung mit dem Titel „Was kann eine gute stehende Schaubühne eigentlich wirken?“: „Wenn sie die Summe der Laster weder tilgt noch vermindert, hat sie uns nicht mit denselben bekannt gemacht?“
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Inszenierter Zusammenbruch: Regiebuch zu Adolf Wilbrandts Schauspielerinnendrama „Auf den Brettern“, Berlin 1878.
 (Foto: Württembergische Landesbibliothek Stuttgart)

Auf der Bühne sind es gerade die Szenen des Wahnsinns, die das Interesse von Schauspielern und Publikum auf sich ziehen. So sind die heute vergessenen Trauerspiele „Narciß“ von Emil Brachvogel oder das Schauspielerinnendrama „Adrienne Lecouvreur“ von Eugène Scribe und Ernest Legouvé über Jahrzehnte hinweg im Repertoire aller führenden Schauspielerinnen und Schauspieler. In ihrer Beliebtheit kulminiert der Trend, tragische Konstellationen durch psychiatrische zu ersetzen und darin der seelischen Befindlichkeit der Figuren mit Blick auf die jeweils gültigen klinischen Bilder Kontur zu geben. Dieser Trend umfasst sowohl die Gesellschaftsdramen als auch die Römer- und Griechentragödien und balanciert das Lustspiel-Repertoire der Bühnen aus.
Dass die genannten Dramen über Jahrzehnte für Bühnenerfolge sorgten, weist darauf hin, dass sie Rollen bereit hielten, die für Schauspieler besonders ergiebig waren, weil sie das Ausspielen einer entfesselten Theatralität erlaubten. Die theatrale Dopplung verlangt, dass der Schauspieler die Elemente der Bühne als reale Gegenstände und auch als Bühnenzeichen wahrnimmt. Für die Dauer des Spiels ist die Bühne ein Wohnzimmer oder ein Kerker, der Kollege Geliebter oder Verfolger und das Publikum akzeptiert quasi vertraglich diese Fiktion. Dagegen schafft der Wahnsinnige eine Bühne im Kopf, auf der die Umwelt auf spezifische Weise agiert. Dass er diese Fiktion nicht oder nur gelegentlich durchbricht, kennzeichnet ihn gerade als krank. Tritt nun der Wahnsinn in der fiktionalen Figur auf die Bühne, dann macht ihre Verwechslung von Imagination und Wirklichkeit den Kontrakt sichtbar, auf dem die Beziehung zwischen Zuschauer und Bühne basiert. Gerade weil die Wahnsinnige sich im Wahnsinn nicht von ihrer „Rolle“ distanzieren kann, verunsichert außerhalb des Theaters, was der Zuschauer im Theater als Steigerung des theatralen Effekts wahrnimmt.

Vom maßvollen Spiel zum Exzess
Im Theater des 19. Jahrhunderts bestimmt die Forderung nach maßvollem Spiel die Schauspielästhetik. Die Figur der und des Wahnsinnigen erlaubt es aber, dieses Maß in Körpersprache und Stimme punktuell zu überschreiten und darin eine theatrale Präsenz herzustellen, die über die Bühnenfiktion hinausgeht. Dieser Exzess weist auf den Schauspieler selbst zurück, der sich vor die Rolle schiebt. Er trägt den Namen Virtuosität oder Willkür, wobei der Virtuosität tendenziell zu viel Verstand, der Willkür der Hang zur Pathologie vorgeworfen werden.
Die Gegenwärtigkeit des Schauspielerkörpers auf der Bühne und dessen Rückkoppelung mit der körperlichen Präsenz des Zuschauers gehören zu den Forschungsfeldern der Theaterwissenschaft des 21. Jahrhunderts. Spielt heute das Theater mit der Verunsicherung des Zuschauers, indem auf der Bühne Dinge passieren, die nicht als inszeniert erkannt werden, so ist es für die Bühne am Ende des 19. Jahrhunderts die Suggestion, die Theaterschaffende und Theoretiker als Leitbegriff verstehen. Im Zuschauerraum sitzt der Betrachter, um es mit den Worten des Literaturwissenschaftlers Peter Szondi auszudrücken, „schweigend, mit zurückgebundenen Händen, gelähmt vom Eindruck einer zweiten Welt.“ Es ist die Suggestion einer Wahrhaftigkeit des Spiels, welche die Zuschauer bei Schauspielern wie Eleonora Duse oder Friedrich Mitterwurzer beeindruckt. Diese Wahrhaftigkeit geht für die Zuschauer um 1900 über das Bildungstheater hinaus, welches das Jahrhundert bestimmt hat. Doch zeigt sich in der Fokussierung der psychisch kranken Figur, dass nicht nur ein aktuelles gesellschaftliches Problem, sondern auch die Möglichkeit, die Ästhetik des Maßes zu unterlaufen, Anlass der theatralen Auseinandersetzung mit dem Wahnsinn war.
Umgekehrt ist es in der Psychiatrie Ende des 19. Jahrhunderts die Hysterikerin, die von den Medizinern als Schauspielerin betrachtet und insbesondere ab 1880 unfreiwillig in Hörsälen ausgestellt wird. Doch auch die Verquickung von Schauspiel und Wahnsinn und der Verdacht der Simulation haben Tradition. Daher konstituiert sich der beobachtende psychiatrische Blick im 19. Jahrhundert gerade nach den Parametern, die auch das Theater bestimmen: Körper, Stimme, Raum, Kohärenz der Gestaltung. Heute sind die Wahnsinnigen des 19. Jahrhunderts weitgehend von der Bühne verschwunden. Nach wie vor aber sind psychische Krankheiten auf der Bühne eine Möglichkeit, mit innovativen ästhetischen Formen und Wahrnehmungen zu operieren, wie die Stücke des 20. Jahrhunderts zeigen.        Annette Bühler-Dietrich

 

KONTAKT
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Dr. Annette Bühler-Dietrich
Institut für Literaturwissenschaft
Abteilung für Neuere Deutsche Literatur II
Tel. 0711/685-83063
e-mail: annette.buehler-dietrich@ilw.uni-stuttgart.de