Potenziale nicht nur für die Industrie

Der Transformationsprozess „4.0“ wird die gesamte Wirtschafts- und Arbeitswelt erfassen

Ein Gastbeitrag von Dr. Nicole Hoffmeister-Kraut über die Stärken der Industrie 4.0, die Herausforderungen für kleinere und mittlere Unternehmen und die Rolle von Politik und Wissenschaft.
[Foto: Ministerium für Wirtschaft, Arbeit und Wohnungsbau]

Industrie 4.0 stärkt die Kernkompetenzen der baden-württembergischen Wirtschaft, doch viele kleinere und mittlere Unternehmen tun sich mit dem Sprung hin zu intelligenten Produktionssystemen noch schwer. Wie kann die Politik möglichst allen Unternehmen Orientierung für eigene Wege zur Industrie 4.0 geben und welche Rolle kann die Wissenschaft dabei spielen? Antworten auf diese Fragen gibt Dr. Nicole Hoffmeister-Kraut, Ministerin für Wirtschaft, Arbeit und Wohnungsbau Baden- Württemberg, in einem Gastbeitrag für forschung leben.

Baden-Württemberg hat beim Aufbruch zur digitalen Transformation der Wirtschaft ausgezeichnete Startvoraussetzungen. Das Land ist die Herzkammer des deutschen Maschinenbaus und Sitz hochinnovativer Automobilhersteller mit ihren Zulieferern. In unserem Land sind viele führende Anbieter industrieller Informations- und Kommunikationstechnik beheimatet – egal, ob es um weltweit renommierte Systeme oder um ganz spezielle Nischenmärkte geht. Führende Forschungseinrichtungen legen dafür eine exzellente wissenschaftliche Basis. Gemeinsam decken sie die gesamte Bandbreite von Technologien für die digital vernetzten Wertschöpfungsketten der Zukunft ab. Die besondere Stärke unserer Wirtschaft ist es, hochspezialisierte Produkte in kleinen Stückzahlen und bester Qualität herzustellen. Industrie 4.0 wird unserer Wirtschaft helfen, diese Kernkompetenz zu schärfen.

Eine große Gefahr besteht allerdings darin, dass viele kleinere und mittlere Unternehmen von der Entwicklung hin zu intelligenten Produktionssystemen abgekoppelt werden. Als wesentliche Glieder der Wertschöpfungsketten sind sie aber unverzichtbar für durchgängig digital vernetzte Prozesse. Unser ambitioniertes Ziel muss es daher sein, möglichst alle Unternehmen zu erreichen und ihnen Orientierung für eigene Wege zur Industrie 4.0 zu geben. Während die Digitalisierung bei produktionsnahen Technologien bereits in vielen Unternehmen Einzug hält, gibt es noch einen großen Nachholbedarf bei der Gestaltung neuer Geschäftsmodelle. Gut zwei Drittel aller befragten Industrieunternehmen ab hundert Beschäftigten wollen einer Studie von Bitkom zufolge zwar ihre Prozesse optimieren, aber nur 14 Prozent von ihnen haben das vorrangige Ziel, neue datengetriebene Geschäftsmodelle zu entwickeln. Gerade in diesen Geschäftsmodellen liegt aber das größte Potenzial der Industrie 4.0, hier kann echter Mehrwert generiert werden.

Dr. Nicole Hoffmeister-Kraut bei einer Betriebsbesichtigung
Dr. Nicole Hoffmeister-Kraut bei einer Betriebsbesichtigung

Chancen der Digitalisierung zeigen

In der „Allianz Industrie 4.0 Baden-Württemberg“ organisieren wir im engen Schulterschluss mit allen wesentlichen Akteuren ein Bündel an Maßnahmen, um insbesondere den kleinen und mittleren Unternehmen die Chancen zu zeigen, die ihnen die digitale Vernetzung von Wertschöpfungsketten und hochflexible Prozesse bieten. So identifizieren wir beispielsweise in unserem Wettbewerb „100 Orte für Industrie 4.0 in Baden-Württemberg“ Best-Practice-Beispiele für Produktionsprozesse, neue Produkte oder Geschäftsmodelle. Dass mehr als die Hälfte der Preisträger kleine und mittlere Unternehmen sind, zeigt deutlich, dass Industrie 4.0 in unserem Land bereits im Mittelstand angekommen ist.

Doch nicht nur in der Industrie eröffnen sich durch die Digitalisierung große Potenziale. Der Transformationsprozess wird grundsätzlich alle Branchen erfassen. Mit der Initiative Wirtschaft 4.0 richten wir uns über die Industrie hinaus insbesondere auch an Handwerk, Handel, Gastgewerbe und Dienstleistungsbetriebe. Damit bilden wir das Dach über sämtliche Digitalisierungsaktivitäten des Ministeriums für Wirtschaft, Arbeit und Wohnungsbau. Und wir schaffen den Boden dafür, dass die Wirtschaft des Landes in ihrer Vielfalt dazu beiträgt, dass Baden-Württemberg auch im Digitalzeitalter führende Innovationsregion in Europa bleibt.

Neben den bereits erwähnten digitalen Lösungen gerade im Bereich Industrie 4.0 wollen wir die Digitalisierung im Rahmen der Initiative Wirtschaft 4.0 insbesondere auch in der gesamten Fläche des Landes voranbringen. Deshalb werden wir den Aufbau regionaler Digital Hubs fördern. Die Digital Hubs sollen regionale Leuchttürme für digitale Innovation und Transformation sein. Sie sollen bestehende Unternehmen, Start-ups und weitere Akteure, etwa aus der Forschung, räumlich zusammenbringen, digitale Technologien erfahrbar machen und die gemeinsame Entwicklung digitaler Projekte unterstützen. Um die Übertragung von wissenschaftlichen Erkenntnissen in wirtschaftliche Wertschöpfung voranzubringen, fördern wir innovative Transferprojekte im Bereich der Digitalisierung der Wirtschaft. Zudem haben wir im Juli 2017 die modellhafte Erprobung der „Digitalisierungsprämie“ gestartet, mit der wir kleinere mittelständische Unternehmen bei konkreten Umsetzungsschritten der Digitalisierung unterstützen.

Wir brauchen kreative und mutige Wissenschaftler, die bereit sind, über den Tellerrand hinauszublicken.

Dr. Nicole Hoffmeister-Kraut, MdL - Wirtschaftsministerin Baden-Württemberg

Veränderte Arbeitswelt

Die Gestaltung der Arbeitswelt 4.0 ist ein zentrales Anliegen des Ministeriums für Wirtschaft, Arbeit und Wohnungsbau. Schließlich braucht die intelligente, wandlungsfähige Fabrik der Zukunft ein optimales Zusammenspiel von Mensch, Technik und Organisation. Die Anforderungen an die Arbeitskräfte werden sich verändern. Wir müssen die Beschäftigten und die nachwachsende Generation gut auf diesen kommenden Wandel in der Arbeitswelt vorbereiten. Dafür fördern wir den Aufbau von 16 „Lernfabriken 4.0“ an beruflichen Schulen im Land. In diesen Lernfabriken, die auf realen Industriestandards basieren, wird das abstrakte Konzept von Industrie 4.0 für Nachwuchskräfte und Beschäftigte greifbar. In der Ausgestaltung der Anlagen werden die Schulen von einer großen Zahl von Unternehmen, Kammern und weiteren regionalen Akteuren unterstützt. In keinem anderen Bundesland gibt es Initiativen, mit denen die Kompetenzen zu Industrie 4.0 derart intensiv in die Fläche gebracht werden.

Ein weiterer Fokus unserer Bemühungen gilt den Führungskräften. Denn sie werden in Zukunft komplexe Probleme nicht mehr alleine lösen können, sondern müssen die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter darin unterstützen, Kompetenzen zu entwickeln und Stärken zu entfalten. Auch das Thema flexibles, mobiles Arbeiten ist eine Herausforderung, der sich Führungskräfte zunehmend stellen müssen.

Die Digitalisierung der Arbeitswelt wirft auch Fragestellungen im Arbeitszeitrecht auf, die heute noch nicht vollständig absehbar sind und die nicht für alle gleichermaßen durch den Gesetzgeber beantwortet werden können. Benötigt werden echte Freiräume in den Betrieben. Zugleich brauchen wir weiterhin klare Richtlinien, denn die hohen Standards unseres Gesundheits- und Arbeitsschutzes dürfen und wollen wir nicht aufgeben. Ich setze deshalb auf die Partnerschaft von Arbeitgebern und Arbeitnehmern, sei es auf der Ebene von Tarifverträgen zwischen Gewerkschaften und Verbänden, oder durch Vereinbarungen auf betrieblicher Ebene.

Wissenschaft erarbeitet Grundlage

Die Landesregierung will die Auswirkungen der Digitalisierung auf die Arbeitswelt in Baden-Württemberg auch arbeitswissenschaftlich begleiten, um eine fundierte Grundlage für künftige politische Diskussionen und Entscheidungen zu bekommen. Deshalb fördern wir eine mehrjährige Studie der Universität Hohenheim, bei der es darum geht, auf Basis der aktuellen Datenlage den Ist-Stand und die Entwicklung digitaler und mobiler Arbeit in Baden-Württemberg zu analysieren. In die Studie ist auch das Fraunhofer IAO eingebunden. Die Zwischenergebnisse werden regelmäßig veröffentlicht, zum Beispiel auf der Website des Wirtschaftsministeriums. An der Universität Stuttgart haben wir ein Verbundprojekt gefördert, das die Kompetenzen der Zukunft in der Industrie 4.0 erforscht und Empfehlungen für die berufliche Weiterbildung erarbeitet hat. In einem anderen Projekt geht es um Industrie 4.0 im Einsatz für die zukünftige Entwicklung und Fertigung von Solarzellen. Ganz aktuell haben wir ein Forschungsvorhaben bewilligt, das sich mit innovativen Technologien an der Schnittstelle zwischen Fahrzeug, Infrastruktur und den zugrundeliegenden Prozessketten im Vorfeldbereich von Flughäfen beschäftigt.

Die technische Wissenschaft trägt wesentlich dazu bei, dass Baden-Württemberg ein international herausragender Premiumstandort für die digitalisierte Wirtschaft ist. Bedeutende Innovationen entstehen oft an den Schnittstellen zwischen wissenschaftlichen Disziplinen, denn nur im Zusammenspiel zwischen Ingenieuren, IT-Fachleuten, Mathematikern und Betriebswirten können sich neue Geschäftsmodelle entwickeln. Wenn Systemspezialisten mit Arbeitswissenschaftlern zusammenarbeiten, können agile Organisationen entstehen, die die ganz spezifischen Fähigkeiten von Mensch und Maschine perfekt zusammenfügen. Wir brauchen kreative und mutige Wissenschaftler, die bereit sind, über den Tellerrand hinauszublicken. Und solche, die die Fertigstellung einer wissenschaftlichen Arbeit nicht als den Abschluss ihres Engagements, sondern als den Beginn der Umsetzung ihrer wissenschaftlichen Ergebnisse in konkrete Anwendungen begreifen. Ich hoffe, dass immer mehr junge Menschen den Schritt gehen, mit ihren Kompetenzen ein eigenes Unternehmen aufzubauen. Auf diese Weise wird das Innovationsland Baden-Württemberg jung und lebendig bleiben.
Dr. Nicole Hoffmeister-Kraut

Dr. Nicole Hoffmeister-Kraut ist Mitglied des Landtags von Baden-Württemberg und wurde am 12. Mai 2016 zur Ministerin für Wirtschaft, Arbeit und Wohnungsbau des Landes Baden-Württemberg ernannt. Die gebürtige Balingerin studierte BWL an der Universität Tübingen und promovierte 2001 an der Universität Würzburg. Ihre Berufstätigkeit begann Dr. Hoffmeister- Kraut bei der Investmentbank Morgan Stanley, danach arbeitete sie bis 2005 als Analystin bei Ernst & Young in London und Frankfurt. Sie ist seit 1999 Gesellschafterin der Bizerba SE & Co. KG in Balingen. Dort war sie von 2014 bis zu ihrem Amtsantritt als Ministerin Mitglied des Aufsichtsrats.

Kontakt

 

Hochschulkommunikation

Keplerstraße 7, 70174 Stuttgart

Zum Seitenanfang