Eine Frage der Perspektive

Digitalisierung als Chance für mehr Inklusion

Digitale und technische Assistenzsysteme können dazu beitragen, um Menschen mit Behinderung ein selbstbestimmtes Leben mit Erwerbsarbeit zu ermöglichen.
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Für Menschen mit Behinderung ist Erwerbsarbeit oft der entscheidende Schritt hin zu einem selbstbestimmten Leben. Ein eigenes Einkommen, aber auch der feste Platz im Kollegium oder ein durch Arbeit geregelter Alltag spielen eine wichtige Rolle für die Inklusion. Assistenzsysteme können helfen, Menschen mit Behinderung verstärkt in die Arbeitswelt einzubeziehen.

Erwerbsarbeit hat in unserem Leben große Bedeutung. Sie dient dazu, den Lebensunterhalt zu sichern und Lebenspläne zu realisieren, die man für gut erachtet, etwa eine Familie zu gründen, ein Haus zu bauen oder zu reisen. Neben diesem Zweck stiftet Arbeit Lebenssinn; die Möglichkeit, sich seinen Lebensunterhalt durch Arbeit zu verdienen, ist Ausdruck der Autonomie und Würde moralischer Personen. Zwar sind moralische Personen in einer modernen arbeitsteiligen Gesellschaft voneinander abhängig, doch ist diese Abhängigkeit reziproker Natur, also ein gegenseitiges Geben und Nehmen. Um nicht in unbotmäßiger Art und Weise von anderen abhängig zu sein und um der gerechten Verteilung der Gewinne und Lasten gesellschaftlicher Kooperation willen, sollte jeder in der Lage sein, seinen Lebensunterhalt zu verdienen.

Arbeit ist identitätsstiftend

Der Sozialphilosoph Axel Honneth hat in seiner politisch- philosophischen Kontroverse mit Nancy Fraser die wichtige Rolle herausgestellt, die soziale Anerkennung durch Arbeit als Bedingung gelingender Identitätsbildung darstellt. Arbeit besitzt demnach einen besonderen Stellenwert für uns, weil soziale Anerkennung wesentlich ist für die Entwicklung gelingender praktischer Identitäten. Diese erschöpfen sich nicht in der individuellen Unverwechselbarkeit, sondern beinhalten ein aktiv gestaltetes Selbstverhältnis, das vornehmlich in der Interaktion mit anderen entsteht. Eines der zentralen Felder dieser Interaktion ist die ökonomische Sphäre, die in unserer Gesellschaft marktwirtschaftlich organisiert ist und in der Arbeit eine zentrale Rolle spielt.

Diese Argumentationsfigur aus der Anerkennungstheorie dient unter anderem dazu, das Konzept eines bedingungslosen Grundeinkommens zu kritisieren, wie es beispielsweise Jeremy Rifkin vorschlägt, um den durch die Digitalisierung der Arbeit vermuteten Jobschwund zu entschärfen. Wenn soziale Anerkennung durch Arbeit so wichtig für die Ausbildung einer gelungenen praktischen Identität ist, fragt sich etwa Beate Rösler in ihrem Aufsatz „Sinnvolle Arbeit und Autonomie“, beraubt man dann nicht mit einem Grundeinkommen die Betroffenen der Möglichkeit, diese Form der Anerkennung zu erhalten? Diese Überlegungen zeigen, wie wichtig es ist, über die Folgen der Digitalisierung der Arbeitswelt nicht nur in ökonomischen Kategorien nachzudenken, sondern auch ethische Überlegungen miteinzubeziehen. Aus meiner Sicht ist es dabei zentral, die Auswirkungen der Digitalisierung der Arbeitswelt im Hinblick auf verschiedene Gruppen von Beschäftigten zu unterscheiden.

Für Menschen mit Behinderung hat Erwerbsarbeit einen hohen Stellenwert. Wie Assistenzsysteme sie bei ihrer Arbeit unterstützen können, erforschen Wissenschaftler auch unter ethischen Kriterien.

Digitale Assistenz für Menschen mit Behinderung

Eine Gruppe, die mir in meiner Forschung besonders am Herzen liegt, sind Menschen mit Behinderung. Mehr und mehr gerät politisch in den Blick, dass Erwerbsarbeit für Menschen mit Behinderung nicht weniger wichtig ist als für Menschen, die keine Behinderung aufweisen. So ist es eine zentrale Forderung der UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderung, die seit ihrer Ratifizierung 2009 auch in Deutschland den Status einfachen geltenden Rechts besitzt, dass Menschen mit Behinderung verstärkt in die Arbeitswelt einbezogen werden sollen.

Assistenzsysteme können hierbei unterstützend wirken. Dies wurde durch das kürzlich abgeschlossene, vom Bundesministerium für Wirtschaft und Energie geförderte Forschungsprojekt MotionEAP erwiesen. In dem Projekt ging es um die Entwicklung eines Systems zur Effizienzsteigerung und Assistenz bei Produktionsprozessen in Unternehmen auf der Basis von Bewegungserkennung und Projektion. Das von mir geleitete Teilprojekt untersuchte die ethischen Implikationen solcher Systeme. In diesem Zusammenhang hat sich gezeigt, dass Assistenzsysteme insbesondere die Leistung von Menschen mit schweren kognitiven Beeinträchtigungen steigern können und von diesen sehr positiv erlebt werden. Ein Anwendungsbereich war die Montage von Schraubzwingen. Menschen mit geistiger Behinderung empfinden diese Arbeit mithilfe eines Assistenzsystems als mental weniger anstrengend und sie sind weniger angewiesen auf persönliche Rückmeldung und Bestätigung. Das gibt ihnen mehr Selbstsicherheit und sie führen den Arbeitsprozess nicht nur sichtlich entspannter aus, sondern zeigen auch mehr Freude und Motivation. Und sie können selbst nach längerer Unterbrechung problemlos wieder an den Arbeitsprozess anknüpfen.

Segen oder Fluch - eine Frage der Perspektive

Wie die Technisierung der Arbeit im Rahmen von Industrie 4.0 zu bewerten ist, hängt also von verschiedenen Faktoren ab. Dazu gehören die Ausgestaltung und der Einsatzbereich digitaler Technologien. Diese können einerseits zur Herausbildung komplexerer Aufgaben sowie kognitiv und sozial anspruchsvollerer Tätigkeitsfelder führen. Andererseits können sie zur Vereinfachung von Arbeitsprozessen beitragen. Ob diese Entwicklung ethisch positiv einzuschätzen ist, hängt u. a. von der betrachteten Zielgruppe ab. Insbesondere für Menschen mit Behinderung können sich dadurch neue Perspektiven ergeben. Dies betrifft sowohl die Inklusion auf dem ersten Arbeitsmarkt als auch den Einsatz digitaler Technologien in Werkstätten für Menschen mit Behinderungen.
Prof. Catrin Misselhorn,
Institut für Philosophie, Lehrstuhl für Wissenschaftstheorie und Technikphilosophie

Prof. Dr. Catrin Misselhorn, Lehrstuhl für Wissenschaftstheorie und Technikphilosophie am Institut für Philosophie (PHILO), Tel.: +49 711/685-82491, E-Mail

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