Bereit für die zweite Quantenrevolution

Stuttgarter und Ulmer Kompetenzen unter einem Dach vereint

Am Übergang zur technischen Anwendung – Nach zwölf Jahren gemeinsamer Forschung sind Sensoren, Computer und Kommunikation auf der Grundlage von Quantentechnologien keine Utopie mehr.

Mit dem Center for Integrated Quantum Science and Technology (IQST) positionieren sich Wissenschaftler der Universitäten Stuttgart und Ulm gemeinsam für einen Entwicklungssprung, der viele Technologiebereiche betreffen wird. So sollen Sensoren, Kommunikationstechnik und Computer möglich werden, die grundlegende quantenphysikalische Effekte nutzen, um besser, empfindlicher oder verlässlicher als ihre heutigen Pendants zu arbeiten. Um den Weg aus der Grundlagenforschung in die technische Anwendung zu ebnen, arbeiten die Wissenschaftler interdisziplinär zusammen.

An manche technologische Neuerungen im Alltag haben wir uns bereits so gewöhnt, dass keiner mehr darüber nachdenkt, warum etwas überhaupt so funktioniert, wie es funktioniert. DVDs, Smartphones, Internet, Flachbildschirme, LEDs – alle diese Selbstverständlichkeiten haben jedoch eine Vorgeschichte, die vor vielen Jahrzehnten in diversen Forschungseinrichtungen begann. So haben die Entdeckungen in der Festkörper- und Quantenphysik und ihre spätere technische Nutzung in integrierten Schaltkreisen oder Lasern einige der gängigsten heutigen Anwendungen überhaupt erst möglich gemacht. Und diese Entwicklung ist noch lange nicht zu Ende. Im Gegenteil: „Wir befinden uns am Übergang zur Quantentechnologie“, sagt Prof. Jörg Wrachtrup, Direktor des 3. Physikalischen Instituts der Universität Stuttgart. Unter Quantentechnologien subsummieren die Experten dabei neuartige technische Ansätze, die spezifische Eigenschaften von Systemen ausnutzen, deren Verhalten sich nur durch die Quantenphysik erklären lässt. „Die Situation, in der wir uns heute befinden, ist vergleichbar mit dem Übergang von der Halbleiterphysik zu mikroelektronischen Bauelementen und integrierten Schaltkreisen, wie er sich in den 1950er und 1960er Jahren vollzogen hat“, veranschaulicht Wrachtrup die mögliche Tragweite.

An den Universitäten Stuttgart und Ulm sowie am Max-Planck-Institut für Festkörperforschung haben die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler auf diese Entwicklung reagiert, indem sie das Center for Integrated Quantum Science and Technology (IQST) gegründet haben. Vorangetrieben hatten die Idee zwei Professoren: Wolfgang Schleich, Leiter des Instituts für Quantenphysik der Universität Ulm, und Tilman Pfau, Direktor des 5. Physikalischen Instituts der Universität Stuttgart. Die Wurzeln des IQST reichen mehr als zehn Jahre zurück. „Die Keimzelle war der Transregio21“, so Pfau. An diesem 2005 gestarteten Sonderforschungsbereich zur Quanten-, Atom- und Festkörperphysik sind die Universitäten Stuttgart, Tübingen und Ulm beteiligt sowie das Max-Planck-Institut für Festkörperforschung. Die dritte und letzte Förderperiode geht jetzt zu Ende. Die gemeinsame Forschung in den letzten zwölf Jahren hat dafür gesorgt, dass Sensoren, Computer und Kommunikationstechnologien auf der Grundlage von Quantentechnologien keine Utopien mehr sind. „Häufig ist das, was bislang im Labor möglich ist, noch weit von einer technischen Anwendung entfernt“, sagt Pfau, der auch Sprecher des IQST ist. „Aber die Wissenschaft hat erkannt, dass sie die gesamte Kette von der Grundlagenforschung bis zum industrienahen Machbarkeitsnachweis mitdenken und erforschen muss.“

Hier ist der Aufbau für Atomspektroskopie von atomaren Gasen bei Raumtemparatur zu sehen. Die Kunst ist, bei diesen vergleichsweise hohen Temparaturen Quanteneffekte herauszuarbeiten und nutzbar zu machen.
Hier ist der Aufbau für Atomspektroskopie von atomaren Gasen bei Raumtemparatur zu sehen. Die Kunst ist, bei diesen vergleichsweise hohen Temparaturen Quanteneffekte herauszuarbeiten und nutzbar zu machen.

Zahlreiche Preise, internationales Renommee

Das IQST vereint hierfür geballte Kompetenz. Insgesamt sind 20 Stuttgarter und Ulmer Institute beteiligt mit 22 Professoren. Die Zahl der Wissenschaftspreise und Förderprogramme unter den Forschern des Zentrums ist hoch: vier Leibniz-Preise, zwei Max- Planck-Preise, zwei Humboldt-Professuren, 15 ERC Grants und ein ERC Synergy Grants. Vier Forscher des IQST gehören zu den weltweit am meisten zitierten Wissenschaftlern. Damit sie alle unter möglichst optimalen infrastrukturellen Voraussetzungen experimentieren können, entstehen zwei Forschungsneubauten: Am Standort Stuttgart ist es das ZAQuant, das Zentrum für Angewandte Quantentechnologien, am Standort Ulm das ZQB, das Zentrum für Quantenbiowissenschaften.

Ein komplexes Beispiel für die Arbeiten am IQST schildert Prof. Peter Michler, Direktor des Instituts für Halbleiteroptik und Funktionelle Grenzflächen (IHFG) an der Universität Stuttgart: „Wir forschen an Lichtquellen, die den Gesetzen der Quantenmechanik unterliegen, und wollen diese verwenden, um Biomoleküle mit einem Sensor nachzuweisen.“ Die Physiker in Stuttgart kooperieren dazu mit dem Team von Prof. Boris Mizaikoff, Leiter des Instituts für Analytische und Bioanalytische Chemie der Universität Ulm. „Wir sind die Experten für die Lichtquelle, die Ulmer Kollegen sind die Experten für den Biosensor“, sagt Michler. Die IHFG-Physiker fertigen ihre Lichtquellen aus Halbleitersystemen, indem sie sehr kleine dreidimensionale Strukturen erzeugen. Diese Strukturen, Quantenpunkte genannt, geben Licht ab, wenn ihnen Energie zugeführt wird. Allerdings tun sie das nicht wie eine klassische Lichtquelle, die eine große Menge an Photonen, also Lichtteilchen, aussendet. Vielmehr geben die Quantenpunkte die Photonen einzeln ab – wodurch die „Beleuchtung“ weiterhin den Gesetzen der Quantenphysik unterliegt. „Wir schicken unsere Photonen in einen speziell gestalteten Wellenleiter, um verschränkte Photonenpaare zu erzeugen“, so Michler.

Für Strom gibt es schon viele integrierte Bauteile wie Schalter, Speicher etc. Für Licht müssen Bauteile erst entwickelt werden, um die quantenmechanischen Eigenschaften des Lichts zu nutzen.
Für Strom gibt es schon viele integrierte Bauteile wie Schalter, Speicher etc. Für Licht müssen Bauteile erst entwickelt werden, um die quantenmechanischen Eigenschaften des Lichts zu nutzen.

Effekte, die dem gesunden Menschenverstand widersprechen

Eine quantenmechanische Verschränkung ist eine Eigenschaft, die es gemäß der Alltagserfahrung gar nicht geben dürfte. Zwei verschränkte Photonen verhalten sich nämlich nicht mehr unabhängig voneinander, selbst wenn sie weit voneinander entfernt sind. Vielmehr wirkt sich eine Messung der Eigenschaften des einen Photons unmittelbar auf die Eigenschaften des anderen Photons aus. Inzwischen ist die Wissenschaft so weit, dass sie diesen Effekt makroskopisch – also sozusagen mit Alltagstechnik – nachweisen kann. Michlers Team stellt die verschränkten Photonen im Experiment den Ulmer Kollegen zur Verfügung, damit diese Biomoleküle nachweisen können. Kürzlich konnte Michlers Mannschaft erstmals einen quantenmechanisch verschränkten Zustand erzeugen, der noch empfindlichere Messungen ermöglichte, als es die Regeln der klassischen Physik erlauben.

„Damit haben wir nachgewiesen, dass sich mit verschränkten Photonen, die aus Quantenpunkten erzeugt wurden, im Prinzip ein besserer Sensor aufbauen lässt als mit klassischem Licht, das zum Beispiel von einem Laser kommt“, sagt Michler. Ziel der Ulmer und Stuttgarter Arbeitsgruppen ist es, sowohl ihre Lichtquelle als auch ihren Sensor auf einen Chip zu integrieren. Es ist eine Vision – derzeit stehen die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler noch ganz am Anfang. Für dieses Projekt ist, wie auch für alle anderen Projekte am IQST, Interdisziplinarität gefordert. Ein Schlagwort, das in der Wissenschaft schon länger sehr strapaziert wird. Trotzdem: Die nächste technologische Revolution wird nicht ohne die Zusammenarbeit über Fachbereichsgrenzen hinweg funktionieren. Jörg Wrachtrup verdeutlicht dies an einem plastischen Beispiel: Quantensensoren für die Neurochirurgie. „Die Idee ist hierbei, während eines Eingriffs bei einem Gehirntumor die lokale Aktivität des betroffenen Bereichs direkt im Kopf zu überprüfen.“ So könnte der Chirurg erkennen, was er noch entfernen muss und was nicht. Für diese Art der Diagnose ist ein hochempfindlicher Sensor erforderlich, der auf Quantentechnologien beruht, und ein Endoskop, um den Sensor an die gewünschte Stelle im Gehirn zu platzieren.

„Wenn sie für diese Anwendung einen Prototyp entwickeln wollen, müssen Mediziner, Biologen, Ingenieure und Physiker zusammenarbeiten“, sagt Wrachtrup. Denn: Der Chirurg hat das Wissen für den Eingriff am Patienten. Der Biologe versteht, was auf Zellebene im Gewebe abläuft. Der Ingenieur integriert den Sensor und die erforderliche Elektronik in das Endoskop – konform zum Medizinproduktegesetz. Und der Physiker kann den Quantensensor entwickeln und hinsichtlich Auflösung und Empfindlichkeit charakterisieren. „Es ließen sich viele weitere Beispiele nennen“, so Wrachtrup, „warum wir ohne interdisziplinäre Zusammenarbeit bei der anstehenden Quantenrevolution nicht weiterkommen.“

Berechtigte Hoffnung auf Fördermittel

Gerade im Hinblick auf die fachübergreifende Zusammenarbeit ist die derzeitige Förderung des IQST durch die Universitäten Ulm und Stuttgart sowie das Land Baden-Württemberg wertvoll. Seit 2014 stehen für einen Zeitraum von fünf Jahren 750.000 Euro jährlich zur Verfügung, für Forschungsprojekte, die andernfalls durch das klassische Raster der Förderung fielen, wie Tilman Pfau erläutert: „Unser Ansatz am IQST bringt es mit sich, dass manches unkonventionelle Projekt bei der Förderung durch traditionelle Denkraster fällt.“ Durch die vorliegenden Geldmittel könne das IQST wichtige Impulse geben.

Pfau hofft auch, dass sich bei Fördermitteln für das IQST in der Zukunft noch einiges tut, unter anderem auch auf der europäischen Ebene. Denn auf Einladung der EU haben mehrere Autoren im Frühjahr 2016 ein „Quantenmanifest“ veröffentlicht. Es fordert die Europäische Kommission auf, eine breit angelegte Förderung für die – wie sie im Manifest genannt wird – „zweite Quantenrevolution“ aufzulegen. Von einem Flaggschiffprojekt ist die Rede, von Mitteln in Höhe von einer Milliarde Euro. Prof. Tommaso Calarco, Sprecher des IQST und einer der beiden Leiter des Instituts für komplexe Quantensysteme der Universität Ulm, war unter den sechs Verfassern des Manifests. Inzwischen haben mehr als 3.600 Vertreter aus Wissenschaft und Wirtschaft das 20-seitige Dokument unterschrieben. Kommt es zur EU-Förderung, wäre das IQST endgültig gut aufgestellt.

Michael Vogel

Kooperation mit Industrie und ausländischen Universitäten

Unter dem Dach des Center for Integrated Quantum Science and Technology (IQST) ist auch die Allianz für Quanteninnovation angesiedelt. Das Programm wurde initiiert von Prof. Fedor Jelezko, Direktor des Instituts für Quantenoptik der Universität Ulm, und Prof. Jörg Wrachtrup, Direktor des 3. Physikalischen Instituts der Universität Stuttgart. „Von der Grundlagenforschung in der Quantentechnologie bis zu ihrer technischen Anwendung in der Entwicklungsabteilung eines Unternehmens ist es ein langer Weg“, so Wrachtrup. „Deshalb wollen wir die Zusammenarbeit mit der Industrie und mit internationalen Partneruniversitäten stärken.“ Das Herzstück des Allianzprogramms ist eine Graduiertenschule, deren Doktoranden ihre Forschungstätigkeit am IQST mit Aufenthalten bei den Kollaborationspartnern verbinden können. Das Programm startete im Herbst 2016. Auf Industrieseite sind die IQST-Kooperationspartner derzeit Bosch, Bruker BioSpin und Zeiss. Auf Hochschulseite sind es die University of British Columbia in Vancouver, die Hebrew University in Jerusalem und die University of Tokyo. Zusätzlich zur Graduiertenschule der Allianz wird die Hebrew University weitere fünf Doktoranden finanzieren, die das IQST besuchen können. „Selbstverständlich sind wir offen für weitere Partner“, so Wrachtrup.

  • Prof. Dr. Jörg Wrachtrup, Direktor des 3. Physikalischen Instituts (PI3), Tel. +49(0)711/685-65278, E-MailWebsite
  • Prof. Dr. Tilman Pfau, Direktor des 5. Physikalischen Instituts (PI5), Tel.  +49 (0)711/685-64820, E-MailWebsite
  • Prof. Dr. Peter Michler, Direktor des Instituts für Halbleiteroptik und Funktionelle Grenzflächen (IHFG), Tel. +49 (0)711/685-64660, E-MailWebsite

www.iqst.org

Kontakt

 

Hochschulkommunikation

Keplerstraße 7, 70174 Stuttgart

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