"Wenn möglich, bitte wenden"

An der Universität Stuttgart entsteht ein "Navi" für die Energiewende

Das Projekt ENavi soll die Umsetzung der Energiewende erleichtern und setzt dabei auf sozialwissenschaftliche Aspekte.

Die Energiewende genießt in Deutschland breite politische und gesellschaftliche Zustimmung. Je tiefer es aber in die praktische Umsetzung geht, umso größer sind vor allem die gesellschaftlichen Herausforderungen dieses Prozesses. Das Projekt „Energiewende-Navigationssystem zur Erfassung, Analyse und Simulation der systemischen Vernetzungen“ (ENavi) an der Universität Stuttgart soll bei der Entwicklung von Lösungen und Transformationspfaden für die Energiewende soziale Aspekte in einem früheren Stadium verankern.

„Das Ziel von ENavi ist, ein robustes und vor allem aus allen Perspektiven betrachtetes Wissen für das bessere Verständnis der komplexen Vorgänge der Energiewende schaffen“, sagt Prof. Kai Hufendiek, Direktor des Instituts für Energiewirtschaft und Rationelle Energieanwendung (IER) der Universität Stuttgart, Vorstand des Forschungsverbunds Stuttgart Research Initiative on Integrated Systems Analysis for Energy (STRise) und Mitglied des Exekutivausschusses des Projekts. ENavi sieht die Energiewende als einen gesamtgesellschaftlichen Transformationsprozess und verknüpft wissenschaftliche Analysen mit politisch-gesellschaftlichen Anforderungen: Technische Machbarkeit, ökologische Verträglichkeit, wirtschaftliche Tragfähigkeit und soziale Gerechtigkeit stehen gleichberechtigt nebeneinander.

Das ENavi soll bei den gesellschaftlichen Herausforderungen der Energiewende unterstützen.
Das ENavi soll bei den gesellschaftlichen Herausforderungen der Energiewende unterstützen.

Bisherige Ansätze des Systemwandels zur Energiewende hätten vor allem auf technische und ökonomische Gesichtspunkte abgezielt, erläutert Martin Steurer, Forschungsgruppenleiter für Energiemärkte am IER und STrise-Geschäftsführer. Im Anschluss blieb es dann den Sozialwissenschaftlern überlassen, für die als optimal erkannte Lösung Akzeptanz zu schaffen. Das führte und führt immer wieder zu Reibungspunkten, Umsetzungsschwierigkeiten – und am Ende oft zu hohen Kosten. Der Ansatz von ENavi ist ein integrierter: Gesellschaftliche Aspekte werden von Beginn an in die Forschung einbezogen. Für das übergeordnete Ziel der Energiewende, das gegenwärtige Energiesystem in ein weitgehend CO2-freies und auf erneuerbaren Energien basierendes System zu überführen, gebe es keinen Masterplan, so Steurer. Vielmehr müssen neben technischen und wirtschaftlichen regelmäßig auch gesellschaftliche Trends berücksichtigt werden.

Vor allem auf der persönlichen Ebene der Menschen wird es da rasch kompliziert. „Der Wandel soll kostengünstig sein, den Komfort erhöhen und in die eigenen Lebensumstände passen – oft folgen erst dann ökologische Erwägungen“, zählt Steurer auf. Eines der „dicken Bretter“, die es seiner Ansicht nach im Projekt ENavi zu bohren gilt: Wenn Deutschland wirksamen Klimaschutz möchte, bedeutet das neben der Entwicklung industriepolitisch interessanter neuer Technologien auch praktische Konsequenzen und Verhaltensänderungen. Und die sind wiederum ungleich schwerer positiv zu vermitteln.

Größtes Kooperationsprojekt bundesweit

Seinen Projektstart erlebte ENavi im Dezember 2016 mit mehr als 200 Beteiligten in Berlin. Dabei sei ein „ganz neuer Geist“ zu spüren gewesen, sagen Hufendiek und Steurer übereinstimmend. Denn hier werden nicht einfach nur einige Sozialwissenschaftler zusätzlich gehört. Das Projekt gilt vielmehr als das größte sozialwissenschaftliche Kooperationsprojekt, das es in Deutschland je gab, weil neben Vertreterinnen und Vertretern der Sozial- und Wirtschaftswissenschaften auch Ingenieure und viele andere Fachrichtungen einbezogen sind. ENavi ist eines von vier „Kopernikus-Projekten“, die das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) als bislang größte Forschungsinitiative zur Energiewende ins Leben gerufen hat. Bundesweit arbeiten 84 Projektpartner zusammen.

Eine gewichtige Rolle spielt dabei der Forschungsverbund STRise als Partner mit der größten Beteiligung am Projekt. Unter dem Dach von STRise forschen neben der Universität Stuttgart mit dem IER und dem Zentrum für interdisziplinäre Risiko- und Innovationsforschung der Universität Stuttgart (ZIRIUS), das Institut für Technische Thermodynamik des Deutschen Zentrums für Luft- und Raumfahrt (DLR) sowie das Zentrum für Sonnenenergie- und Wasserstoff-Forschung Baden-Württemberg (ZSW). Für den ersten, drei Jahre umfassenden ENavi-Projektzeitraum verfügen die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler in Stuttgart über ein Budget von 60 Personenjahren. Das IER erforscht dabei beispielsweise neue ökonomische Herangehensweisen für den Energiemarkt der Zukunft, die auch Akzeptanz und Präferenzaspekte der einzelnen Akteure berücksichtigen. Das ZIRIUS spielt im Gegenzug eine tragende Rolle im sozialwissenschaftlichen Arbeitspaket des Projekts. Großen Wert legen alle Beteiligten auf den intensiven Austausch zwischen allen Projektpartnern.

Vom Reißbrett in die Praxiserprobung

Die Optimierung der Energiewende auf allen Säulen der Nachhaltigkeit soll dabei nicht nur am Reißbrett erfolgen, wie Prof. Hufendiek betont. Für ENavi wurden daher drei Modellregionen ausgewählt, in denen wissenschaftliche Erkenntnisse praxisnah erprobt werden sollen. Die Modellregion Baden-Württemberg steht dabei für den Fokus auf Innovation und Industriekultur, die Metropolregion Ruhrgebiet soll die Umsetzung unter sehr hoher Ballungsdichte verdeutlichen. In der Region Berlin-Brandenburg steht unter anderem die Interaktion ländlicher Gebiete mit der Metropole Berlin im Mittelpunkt der Untersuchung.

Vor allem in der zweiten Phase der voraussichtlich zehnjährigen Projektlaufzeit werden praktische Ansätze in „Real- Laboren“ erprobt. Vision und Ziel der Forscherinnen und Forscher ist das Energiewende-Navigationsinstrument ENavi, das nicht zufällig an die weit verbreiteten Routenplaner im Auto erinnert. Martin Steurer erklärt: „Wir planen ein datenbasiertes Modell, das den sehr dynamischen Prozessen der Energiewende Rechnung trägt. Sobald sich bestimmte Rahmen ändern, müssen auch die Pfade der Energiewende angepasst werden können.“

Energiewende als gewaltiger Transformationsprozess

Im ENavi werden Energieszenerien, Simulationen und Verhaltensweisen hinterlegt; das System zeigt auf, wie gewünschte Ziele zu erreichen sind. „Die Idee dahinter: Es gibt nicht nur einen festgelegten Weg, sondern es werden alternative Optionen aufgezeigt, die alle zum definierten Ziel führen“, so Steurer. Die Energiewende ist ein gewaltiger Transformationsprozess; die größte Herausforderung ist, immer wieder auf kurz- und langfristige Entwicklungen zu reagieren. Das notwendige Nachjustieren soll mit dem Navigationsinstrument künftig einfacher werden und zu größerer Akzeptanz führen.
Jens Eber

  • Prof. Kai Hufendiek, Institut für Energiewirtschaft und Rationelle Energieanwendung, Tel. +49 711 685-87801, E-MailWebsite

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