Unterstützung für den Arzt

Simulationen der Wirbelsäule sollen bei der Skoliose-Behandlung helfen

Simulationstechnologien helfen, die mechanischen Eigenschaften der Wirbelsäule zu beschreiben und erleichtern die Behandlung von Krankheiten wie der Skoliose.
[Foto: Fotolia]

Der Physiker Syn Schmitt und sein Team arbeiten an Simulationen für ein möglichst realistisches Modell der Wirbelsäule, um den Wert bestimmter chirurgischer Eingriffe besser einschätzen zu können. Bislang fließen die Erkenntnisse aus den Simulationen, die im Exzellenzcluster Simulation Technology (SimTech) an der Universität Stuttgart entstanden sind, noch nicht in die medizinische Therapie ein. Der Juniorprofessor vom Institut für Sport und Bewegungswissenschaft arbeitet jedoch mit Kollegen in Australien zusammen, um die Behandlung von Wirbelsäulenverkrümmungen zu verbessern.

Die Wirbelsäule ist ein komplexes Gebilde. Sie ist das zentrale tragende Teil des Menschen, dämpft Stöße, verteilt das Körpergewicht auf die Beine und ermöglicht den aufrechten Gang. Ihre vielfältigen Funktionen ergeben sich erst durch das Zusammenspiel aus Knochen, Bandscheiben, Sehnen, Bändern und Muskeln. Und obwohl die Wirbelsäule per se vor allem ein Forschungsgebiet für Mediziner und Biologen ist, beschäftigen sich doch auch Ingenieure und Forscher aus verwandten Disziplinen schon seit einiger Zeit mit ihren mechanischen Eigenschaften. Bereits vor mehr als 50 Jahren erschien eine Publikation, die die Wirbelsäule als zwei schwingungsfähige Massen beschrieb, zwischen denen eine Feder für Dämpfung sorgt. „Wenn man so will, war das ein – wenn auch sehr einfaches – Modell der Wirbelsäule“, sagt Syn Schmitt. Seit dieser Zeit haben Wissenschaftler in aller Welt weitere Wirbelsäulenmodelle entworfen. „Es gibt inzwischen sehr viele, die sich in dem, was sie leisten, jedoch stark unterscheiden“, so Schmitt.

Röntgenbild einer Wirbelsäulenverkrümmung.
Röntgenbild einer Wirbelsäulenverkrümmung.

Sehr weit verbreitet sind Wirbelsäulenmodelle, die auf dieselbe Methodik zurückgreifen, wie sie Ingenieure anwenden, wenn sie die Stabilität und Dynamik von Brücken simulieren. Bei dieser sogenannten Finite-Elemente-Methode (FEM) werden die tragenden Teile einer Brücke durch ein Gitter aus einfachen geometrischen Körpern dargestellt. Um die Belastungen der Brücke durch Wind und Verkehr zu simulieren, lassen sich die Wechselwirkungen der Gitterelemente untereinander berechnen. Vereinfacht gesagt: Wird in der Simulation keine der lokalen Kräfte über Gebühr groß, hat die Brücke den Belastungstest bestanden. „Die FEM lässt sich auch auf die Wirbelsäule übertragen“, so Schmitt. „Das funktioniert inzwischen recht gut, allerdings stoßen diese Modelle an ihre Grenze, wenn dynamische Vorgänge simuliert werden sollen.“ Die auftretenden Lastwechsel bei einer Abfolge von Stehen, Hinsetzen und Aufstehen zum Beispiel lässt sich mit FEM-basierten Wirbelsäulenmodellen nicht einfach berechnen.

Die Bandscheibe als Simulant

Deshalb hat man am Stuttgarter Exzellenzcluster SimTech einen anderen Weg beschritten. Mit dem dort im Laufe der vergangenen acht Jahre entstandenen Wirbelsäulenmodell wird die Lastverteilung zwischen Strukturen berechenbar. „Wir können zum Beispiel die Kraft ausrechnen, die auf ein Band oder eine Bandscheibe während einer Bewegung wirkt“, verdeutlicht der Juniorprofessor. Wirbelgeometrie, Bandscheiben, Bänder, Sehnen und Muskeln und deren Materialeigenschaften fließen in die Simulationen ein. „Ohne die interdisziplinäre Zusammenarbeit bei SimTech wäre das nicht erreichbar gewesen“, sagt Schmitt.

Das Exzellenzcluster SimTech hat ein Wirbelsäulenmodell entwickelt.
Das Exzellenzcluster SimTech hat ein Wirbelsäulenmodell entwickelt.

Das ursprüngliche Modell der Bandscheibe hatte das Team um Prof. Wolfgang Ehlers entwickelt, Inhaber des Lehrstuhls für Kontinuumsmechanik und geschäftsführender Direktor bei SimTech. Dass das Modell schneller zu berechnen ist – wenige Sekunden pro Bandscheibe und Lastfall statt wie bisher fünf Stunden –, dafür sorgte die Gruppe des Mathematikers Prof. Bernard Haasdonk. Ein Team um Prof. Wolfgang Nowak, Inhaber des Lehrstuhls für Stochastische Simulation und Sicherheitsforschung für Hydrosysteme, half dabei, die Zuverlässigkeit der Simulationen besser abschätzen zu können. Schmitts Arbeitsgruppe schließlich legte den Fokus auf den kompletten Bewegungsapparat, sozusagen auf das mechanische Zusammenspiel der einzelnen Komponenten.

Computer unterstützt Behandlung

Das Team um Schmitt arbeitet aktuell mit Wissenschaftlern in Australien zusammen, um die Aussagekraft des Stuttgarter Wirbelsäulenmodells bei einer konkreten medizinischen Fragestellung zu erforschen. Es geht um die Skoliose, auch als Wirbelsäulenverkrümmung bekannt. Bei den Betroffenen weicht die Wirbelsäule seitlich von der Längsachse ab, zudem sind die Wirbelkörper mehr oder minder verdreht. Erste Symptome treten im Kindesalter auf, oft mit einer Verschlimmerung in der Pubertät. Massive Beeinträchtigungen erleben die Betroffenen jedoch meist erst als Erwachsene. Bei schweren Fällen wird die Wirbelsäule der Betroffenen daher in der Wachstumsphase durch Implantate versteift, um sie in der gewünschten Form zu halten.

In Brisbane arbeiten seit einiger Zeit Simulationsexperten der Queensland University of Technology und Mediziner des Centre for Children’s Healthcare eng zusammen, um mithilfe von Simulationen zu klären, wie viele Wirbelkörper in konkreten Behandlungsfällen tatsächlich versteift werden müssen. „Unsere australischen Kollegen nutzen hierfür ein patientenspezifisches FE-Modell“, sagt Schmitt. „Wir verwenden ihre Ergebnisse, um Lastfälle zu berechnen, die die Muskeln berücksichtigen.“ Diese Resultate fließen dann als Randbedingungen wieder in das australische FE-Modell zurück, um dort realistische Bewegungen zu simulieren. „Wir hoffen, dass wir dadurch für die Patienten eine höhere Vorhersagegüte erreichen, als sie bislang möglich ist“, sagt Schmitt.

Denn es kommt immer wieder vor, dass Implantate unter Belastungen brechen, weil höhere Kräfte auftreten als beim Gehen oder Stehen. Einen ersten realen Fall hat die deutsch-australische Kooperation inzwischen simuliert. Nun soll daraus ein mehrjähriges Projekt entstehen. Gerne würden die Stuttgarter Forscher auch in Deutschland oder Europa einen medizinischen Forschungspartner finden. Allerdings, so hat Schmitt festgestellt, „ist unsere Herangehensweise für Mediziner noch recht ungewohnt.“
Michael Vogel

  • Prof. Wolfgang Ehlers, Institut für Mechanik (Bauwesen), Lehrstuhl für Kontinuumsmechanik, Telefon  +49 711 685-66346, E-Mail, Website
  • Prof. Bernard Haasdonk, Institut für Angewandte Analysis und Numerische Simulation, Tel. +49 711 685, E-MailWebsite
  • Jun.-Prof. Syn Schmitt, Institut für Sport- und Bewegungswissenschaft (Inspo), Abteilung für Modellierung und Simulation im Sport, Tel. +49 711 685-60484,
    E-Mail, Website
  • Prof. Wolfgang Nowak, Institut für Wasser- und Umweltsystemmodellierung, Lehrstuhl für Stochastische Simulation und Sicherheitsforschung für Hydrosysteme, Tel. +49 711 685-60113, E-Mail, Website
  • Exzellenzcluster SimTech

Kontakt

 

Hochschulkommunikation

Keplerstraße 7, 70174 Stuttgart

Zum Seitenanfang