Anpassungsfähige Gebäude

Digitalisierung ermöglicht neuartige Konstruktions- und Bauformen

Gebäude für die wachsende Weltbevölkerung: Zwei Sonderforschungsbereiche der Universität Stuttgart beschäftigen sich mit ressourceneffizientem Bauen zur Schonung unseres Planeten.

Der Welt steht ein gigantischer Bauboom bevor. Mit den bisherigen Verfahren wird dieser nicht zu bewältigen sein. An der Universität Stuttgart gehen interdisziplinäre Teams deshalb in gleich zwei Sonderforschungsbereichen der Frage nach, wie man mit neuartigen Methoden der Planung, der Konstruktion und des Bauens unsere gebaute Umwelt so gestalten kann, dass sie sich selbsttätig an wechselnde Anforderungen, wie etwa hinsichtlich Tragverhalten oder Wärmedämmung, anpassen kann. Als Vorbild dient den Architekten und Ingenieuren auch die Natur.

Als sich Konrad Zuse in den 1930er-Jahren daranmachte, den ersten Computer der Welt zu entwickeln, lebten gerade einmal zwei Milliarden Menschen auf der Erde. Heute, 85 Jahre später, sind es 7,5 Milliarden. Etwa 2 Milliarden Kinder und Jugendliche werden in den nächsten Jahren erwachsen. Sie werden eigene Wohnungen, Arbeitsplätze und Einkaufszentren benötigen. „Alles, was bis 1930 gebaut wurde, müssen wir in den nächsten 16 Jahren noch einmal bauen“, sagt Prof. Werner Sobek, Leiter des Instituts für Leichtbau Entwerfen und Konstruieren (ILEK). „Um unseren Planeten nicht endgültig zu überfordern, benötigen wir dringend neue Ansätze, die es erlauben, mehr mit weniger zu bauen, und mit deren Hilfe sich verbautes Material wieder voll in natürliche und technische Stoffkreisläufe zurückführen lässt.“ Denn das Bauwesen ist weltweit der mit Abstand größte Ressourcenverschwender: Es verbraucht die meiste Energie, das meiste Wasser, die meisten Ressourcen und produziert den meisten Müll.

Zwei Visualisierungen von Entwürfen eines geplanten Demonstrationshauses im Endausbau.
Zwei Visualisierungen von Entwürfen eines geplanten Demonstrationshauses im Endausbau.

Digitalisierung als Chance

Diese Herausforderungen vor Augen nutzen die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler von heute die Möglichkeiten der einst von Zuse angestoßenen digitalen Revolution. Die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) unterstützt dies und fördert an der Universität Stuttgart zwei Sonderforschungsbereiche (SFB) mit jeweils rund 10 Millionen Euro für zunächst vier Jahre. Beide dienen dem Ziel, anpassungsfähige und effiziente Gebäude zu entwickeln, die die Ressourcen und damit die Umwelt schonen. Auf dem Weg dahin setzen sie aber durchaus unterschiedliche Akzente.

Bereits seit 2014 widmen sich in Stuttgart Architekten und Ingenieure im transregionalen Sonderforschungsbereich SFB/TRR 141 – gemeinsam mit Biologen und Physikern der Universität Freiburg sowie mit Geowissenschaftlern und Evolutionsbiologen der Universität Tübingen – den „Entwurfs- und Konstruktionsprinzipien in Biologie und Architektur“. „Unser Ziel sind multifunktionale, anpassungsfähige und gleichzeitig ökologisch effiziente Strukturen, die die Grenzen herkömmlicher Baukonstruktionen weit hinter sich lassen“, erklärt Sprecher Prof. Jan Knippers vom Institut für Tragkonstruktionen und Konstruktives Entwerfen der Universität Stuttgart. Hierfür nehmen sich die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler die außerordentlich vielfältigen und effizienten Strukturen in der Natur zum Vorbild und übertragen deren Prinzipien auf Architektur und Technik.

Zu Beginn des Jahres 2017 ist der Sonderforschungsbereich SFB 1244 „Adaptive Hüllen und Strukturen für die gebaute Umwelt von morgen“ hinzugekommen. Dessen Sprecher Prof. Werner Sobek will mit dem von ihm postulierten „Triple-Zero-Konzept“ erreichen, dass Gebäude in Zukunft nicht mehr Energie verbrauchen, als sie selbst aus nachhaltigen Quellen gewinnen (zero energy), dass sie keine für Mensch und Umwelt schädlichen Emissionen erzeugen (zero emissions) und dass sie ohne Rückstände vollständig in natürliche oder technische Kreisläufe rückführbar sind (zero waste).

Selektiv gelochte Faltenstruktur, die strukturelle und strömungsmechanische Aufgaben gleichzeitig erfüllen kann.
Selektiv gelochte Faltenstruktur, die strukturelle und strömungsmechanische Aufgaben gleichzeitig erfüllen kann.

Gebäude stellen sich auf Belastung ein

Ein Schlüsselwort auf dem Weg dahin lautet Adaptivität. Dieser völlig neue Ansatz steht für eine grundlegende Transformation der architektonischen Konzeption von Gebäuden, die sowohl einzelne Komponenten, als auch deren Einbindung in das Gesamtsystem umfasst. Sobek verdeutlicht dies für den SFB 1244 am Beispiel der Baustruktur: Bislang habe man Bauten so geplant, dass sie die zu erwartenden maximalen Beanspruchungen aushalten. Die Wahrscheinlichkeit, dass derartige Extremfälle tatsächlich eintreten, ist aber typischerweise eher gering. Die Folge sind Tragwerke, die für den größten Teil ihrer Lebensdauer signifikant überdimensioniert sind. Das kostet Material und Geld. Seit inzwischen 20 Jahren forscht man am ILEK daher an anpassungsfähigen Systemen. Eine adaptive Struktur ersetzt die Masse, die für Extremlasten vorgehalten werden muss, durch Energie, die nur kurzzeitig eingesetzt wird. Dies erlaubt radikale Einsparungen bei den einzusetzenden Baustoffen.

Das weltweit erste anpassungsfähige Schalentragwerk

Sobek erforschte dies in der Vergangenheit bereits mit anderen Instituten, insbesondere mit dem Institut für Systemdynamik (ISYS) der Universität Stuttgart, dessen Leiter Prof. Oliver Sawodny auch stellvertretender Sprecher des neuen Sonderforschungsbereichs ist. Zuvor kooperierten die beiden in der ebenfalls DFG-geförderten Forschergruppe 981 „Hybride intelligente Konstruktionselemente“, einer fruchtbaren Zusammenarbeit, die zum Nukleus des jetzigen Sonderforschungsbereichs werden sollte. In ihrem Kontext entstand die „Stuttgart SmartShell“, das weltweit erste anpassungsfähige Schalentragwerk im großen Maßstab: Eine nur vier Zentimeter dicke Holzschale überspannt mehr als 100 Quadratmeter Fläche. Dies funktioniert, weil Sensoren ständig die Belastungen im Bauwerk messen. Drei von vier seiner Auflagepunkte lassen sich mit Hydraulikzylindern bewegen. So stellt sich die Konstruktion innerhalb von Millisekunden auf besondere Krafteinwirkungen ein, beispielsweise durch Schnee oder starke Windböen.

Diese Forschung führt der SFB 1244 weiter. Daran beteiligen sich 15 Institute der Universität Stuttgart sowie das Fraunhofer Institut für Bauphysik – Architekten und Bauingenieure, Flugzeug- und Maschinenbau- Ingenieure sowie Informatiker. Die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler wollen das Prinzip der „Stuttgart SmartShell“ übertragen und untersuchen, wie man mit Sensoren und Aktoren etwa intelligente Hochhäuser und Brücken bauen kann. In einem weiteren Teilbereich des SFB 1244 sollen sogenannte Fluidaktoren, also hydraulische oder pneumatische Elemente, direkt in Bauteile integriert werden. Diese könnten die Anpassungen in den Auflagern überflüssig machen, wie sie bei adaptiven Strukturen wie der SmartShell vorgenommen werden. In einem anderen Projekt will das Team zudem eine schaltbare Atmungsaktivität für Gebäudehüllen entwickeln.

Info

Der Baubionik des Sonderforschungsbereichs 141 widmet sich vom 19. Oktober 2017 bis 6. Mai 2018 die Sonderausstellung „baubionik – biologie befl ügelt architektur“ im Staatlichen Museum für Naturkunde Stuttgart, Schloss Rosenstein. Die Ausstellung zeigt Beispiele, Ideen, Forschungsansätze und Visionen, die das Ziel haben, eine nachhaltige Architektur zu entwickeln, die mit Energie effi zient umgeht und gleichzeitig ästhetisch überzeugt.

Tradition mit Weitblick

Innovationen im Bauwesen herbeizuführen, indem verschiedene Disziplinen zusammenarbeiten, hat an der Universität Stuttgart Tradition. Die Hochschule brachte prägende Ingenieure und Architekten wie Fritz Leonhardt, Jörg Schlaich und Frei Otto hervor, der 2015 als zweiter Deutscher den Pritzker-Preis erhielt. Otto etablierte Zusammenarbeit, während anderswo Rivalität herrschte – und war damit wegweisend: „Seit der Gründung des Instituts für Leichte Flächentragwerke durch Frei Otto, das ich 1994 übernommen und im Jahr 2000 mit dem damaligen Institut für Konstruktion und Entwurf zum ILEK verschmolzen habe, hat die Universität Stuttgart eine weltweite Spitzenposition im Leichtbau inne“, sagt Sobek. Heute ist das am ILEK entwickelte Forschungsfeld „Ultraleichtbau durch aktuierbare Bauwerke“ zu einem zentralen Bestandteil des Forschungsprofils der Universität geworden.

Eine herausragende Leistung Ottos sei zudem gewesen, neue Entwicklungen im Material auch in neuartige Formen der Konstruktion zu übertragen, betont Prof. Achim Menges, Leiter des Instituts für Computerbasiertes Entwerfen (ICD). Otto ließ sich von der Natur inspirieren und strebte nach geringem Materialverbrauch. Beide Prinzipien führen seine Nachfolger im SFB/TRR 141 und dem SFB 1244 fort. Wie damals vollziehe sich derzeit ein fundamentaler Paradigmenwechsel im Bauen, sagt Menges, dessen Institut an beiden Sonderforschungsbereichen mitwirkt. „Das ist der Einzug der digitalen Technologien.“ Ohne diese wäre ein Bauwerk wie die „Stuttgart SmartShell“ undenkbar.

Schaltbare, gepixelte Verglasung in unterschiedlichen Abdunklungen und mit unterschiedlichen Motivdarstellungen.
Schaltbare, gepixelte Verglasung in unterschiedlichen Abdunklungen und mit unterschiedlichen Motivdarstellungen.

Digitale Revolution braucht Kooperation

Daraus resultieren komplexe digitale Planungs- und Fertigungsprozesse, wofür alle Beteiligten intensiv zusammenarbeiten müssen. Das wollen die Stuttgarter Forscher vorleben. Den künftigen Planern gebe man so die erforderlichen neuen Werkzeuge und Methoden an die Hand, mit deren Hilfe sie adaptive Systeme entwerfen, gestalten und baulich umsetzen können, sagt Sobek. Über zahlreiche Kooperationen mit ausländischen Hochschulen und weil in Stuttgart viele junge Menschen aus allen Kontinenten studieren, gelangt dieses Wissen in die großen Wachstumsregionen der Welt. Zudem arbeiten viele deutsche Planer, Architekten und Ingenieure an Projekten in den Regionen, in denen die Lebenswelt für zwei Milliarden junge Erwachsene entstehen muss.

Vom Seeigel zur Ausstellungshalle

Den Gedanken der Interdisziplinarität verfolgt auch der TRR 141: „Die Grundidee des Transregio ist es, Natur- und Ingenieurwissenschaftler zusammenzubringen“, erklärt Jan Knippers. Ziel dieses Teams ist es, aus der Biologie Modelle der Strukturen von Pflanzen und Tieren zu gewinnen, diese zu digitalisieren und in das Ingenieurwesen zu übertragen. Wie der Prozess mit zahlreichen Forschern unterschiedlicher Disziplinen abläuft, lässt sich am Beispiel einer Ausstellungshalle für die Landesgartenschau 2014 in Schwäbisch Gmünd nachvollziehen. Am Beginn der Arbeiten stand eine Gattung des Seeigels, der Sanddollar. „Er lebt in der Brandung und ist durch eine innere Stützstruktur angepasst an hohe mechanische Belastungen“, erklärt Knippers. Diese Struktur erfassten die Biologen mit computertomografischen Aufnahmen. Ein speziell entwickeltes Computerprogramm übersetzte die Grauwerte des Bildes in Festigkeitseigenschaften. Daraus entstand eine Simulation. So ließ sich ein Prinzip ableiten, wie der Sanddollar seine Skelettplatten anordnet und aufbaut.

„Dieses Prinzip folgt Regeln, die ich algorithmisch beschreiben kann“, erklärt Achim Menges. Um derartige Prozesse in der Architektur zu etablieren, hatte er im Jahr 2008 das Institut für Computerbasiertes Entwerfen gegründet. Für die Seeigel-Halle programmierte Menges’ Team ein digitales Planungswerkzeug. Jede der Platten wurde als einzelnes Element mit individuellen Eigenschaften angelegt: Kriterien dabei waren Einschränkungen des Materials, Baubarkeit durch Roboter oder einwirkende Kräfte. „Diese sogenannten Agenten wandern durch den Raum und finden einen Zustand, in dem alle Anforderungen erfüllt sind“, erklärt Menges. „Der Architekt entwirft nicht die finale Form, sondern den Prozess.“ So entsteht eine Mensch-Maschine-Interaktion, die jenseits dessen liegt, was Mensch oder Computer jeweils alleine bisher zu leisten vermochten.

Roboter kann jetzt Holz bearbeiten

In diesem Fall lieferte das Programm die Daten für den Industrieroboter, der daraus ableitete, wie er die Platten sägen, fräsen und bohren soll. Auch diese robotische Bearbeitung von Holz ist eine Innovation. Zunächst baute die Gruppe einen Forschungspavillon aus diesen Holz-Segmentschalen, der die Erkenntnisse für die hochgradig effi ziente, selbsttragende Ausstellungshalle lieferte. Deren 270 Platten ließen sich wie ein 3D-Puzzle zusammenstecken und bei Bedarf auch wieder abbauen. „Wir haben es geschafft, mit 12 Kubikmetern Holz 605 Kubikmeter Raum zu umbauen. Die Schale überspannt 10 mal 19 Meter, ist aber nur 50 Millimeter stark“, sagt Menges. Inzwischen verwenden die ersten Bauvorhaben die Holz-Segmentschalen. Das Prinzip ist im Bau-Alltag angekommen. „Ich sehe unsere Aufgabe in einem hochentwickelten Technologieland darin, die Technologie weiter voranzubringen“, beschreibt Jan Knippers die Rolle der Forscher. „Wenn es sich in der Spitze bewährt hat, wird es sich schrittweise in der Breite durchsetzen.“

Ohne Gelenke, Rollen oder Scharniere

Warum Konstruktionen, die sich an der Natur orientieren, herkömmlichen Strukturen überlegen sein können, erklärt Knippers so: „Normalerweise haben wir viele Komponenten, die wir zusammenschrauben.“ Je komplexer jedoch ein technisches System aufgebaut ist, desto anfälliger wird es: „Es klemmt und quietscht. Wenn nicht jedes Gelenk genau da sitzt, wo es sein soll, gibt es Probleme.“ Mit Hilfe der Bionik verschiebt man diese mechanische Komplexität ins Material.

Pflanzen dienen als Vorbild

Dabei greift man auf zwei Grundprinzipien der Natur zurück: einen Aufbau aus Fasern oder einen aus porösen Strukturen. „In beiden Fällen geht es darum, sehr fein abgestufte physikalische und chemische Eigenschaften zu erzielen“, sagt Knippers. Zahlreiche Teilprojekte im TRR 141 widmen sich daher der Frage, wie man bewegliche, veränderbare Konstruktionen ohne Gelenke, Rollen oder Scharniere bauen kann, indem man Pflanzenbewegungen in mechanische Systeme überträgt. Als Vorbilder dienen dabei unter anderem die Venus-Fliegenfalle und der Öffnungsmechanismus eines Kiefernzapfens. Zwar sind derartige Systeme aufwendiger und komplexer zu konstruieren. Dank digitaler Technik kann man so jedoch einfacher, effi zienter und dauerhafter bauen – bei wesentlich geringerem Materialeinsatz.

Bis sich die Erkenntnisse aus der Forschung vollständig im Bauwesen niederschlagen, wird es nach Werner Sobeks Schätzung noch etwa ein Jahrzehnt dauern. Er rechnet damit, dass sich in einigen Jahren bis zu 70 Prozent der heute eingesetzten Ressourcen einsparen lassen. Die Zeit drängt, denn schon in den 2020er-Jahren soll die Zahl der lebenden Menschen die Marke von 8 Milliarden übersteigen. Daniel Völpel/amg

  • Prof. Jan Knippers, Institut für Tragkonstruktionen und Konstruktives Entwerfen (ITKE), Tel. +49 711 685 83280, E-Mail, Website
  • Prof. Achim Menges, Institut für Computerbasiertes Entwerfen (ICD), Tel. +49 711 685 81929, E-Mail, Website
  • Prof. Werner Sobek,  Institut für Leichtbau Entwerfen und Konstruieren (ILEK), Tel. +49 711 685 63599, E-Mail, Website

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