Internet-Community bewahrt Weltkulturerbe

Faktor X

Ein Doktorand der Universität Stuttgart kämpft für den Kulturerhalt der vom IS zerstörten Werke. Dank einer 3D-Konstruktion bleiben die Statuen digital erhalten.

Der 26. Februar 2015 veränderte alles für Chance Coughenour, der als Doktorand am Institut für Photogrammetrie (IfP) der Universität Stuttgart arbeitet. An diesem Tag nämlich veröffentlichte die Terrormiliz „Islamischer Staat“ (IS) ein Video im Internet, das deren Kämpfer dabei zeigte, wie sie das Museum von Mossul im Irak mit seinen jahrtausendealten Statuen zerstörten. Es sollte den Ausschlag geben für einen neuen Weg des Kulturerhalts.

Spät in jener Nacht saß der 32-jährige Chance Coughenour am Computer und unterhielt sich in einer Facebook-Gruppe mit einem Kollegen aus dem EU-Projekt „Initial Training Network for Digital Cultural Heritage“ (ITN DCH). Darin forschen 16 Nachwuchswissenschaftler in acht Ländern seit Oktober 2013, wie sich das kulturelle Erbe der Menschheit digital erhalten lässt. „Warum verwendet niemand Fotos, um mit Photogrammetrie die Statuen virtuell zu rekonstruieren und in einem virtuellen Museum auszustellen?“, schrieb Matthew Vincent von der Universität von Murcia. Coughenour antwortete: „Das wäre eine tolle Antwort auf IS. Rekonstruieren, was immer sie zerstören.“

Die Trümmer der berühmten, durch den IS zerstörten Löwenskulptur aus dem Allat- Tempel der syrischen Oasenstadt Palmyra.
Die Trümmer der berühmten, durch den IS zerstörten Löwenskulptur aus dem Allat- Tempel der syrischen Oasenstadt Palmyra.

Ehe sie es sich versahen, waren die beiden mittendrin in ihrem eigenen Projekt. Innerhalb von zwei Wochen erstellten sie damals aus 16 Fotos eine dreidimensionale Rekonstruktion des Löwen von Mossul samt einer Internetseite, auf der diese Statue als erste des virtuellen Museums präsentiert wurde. Internationale Medien wie die die großen spanischen und französischen Tageszeitungen „El Pais“ und „Le Monde“ bis hin zum britischen Sender BBC berichteten darüber. Was anfänglich unter dem Namen „Project Mosul“ lief, heißt heute „Rekrei“. Aus dem Esperanto übersetzt bedeutet das so viel wie „wiederaufbauen“. Denn längst werden auch Kulturdenkmäler andernorts erfasst. Eigentlich wollte sich Coughenour innerhalb des EU-Projekts und in seiner Dissertation am IfP mit automatisierter 3D- und 4D-Datenerfassung mithilfe von Lasermessungen und Photogrammetrie befassen.

Beitrag gegen Barbarei

Der junge US-Amerikaner hatte nach seinem Bachelor in Geschichte an der West Virginia University zwei Masterabschlüsse an der Universität von Leicester in England und in Spanien erworben, letzteren in virtueller Archäologie. Deshalb kam er auch ans IfP, weil „Photogrammetrie sehr wichtig für die Archäologie und unser virtuelles Erbe ist“. Das wollte er an einem Institut vertiefen, das sich mit der Weiterentwicklung und Digitalisierung der im 19. Jahrhundert erfundenen Technik befasst, bei der aus Fotografien die räumliche Form eines Objekts rekonstruiert wird.

Rasch nahm das Rekrei-Projekt jedoch eine solche Dimension an, dass Coughenour einen Großteil seiner Zeit damit befasst war – und ist. „Rekrei gab den Menschen die Möglichkeit, gegen die Barbarei des IS einen kleinen Beitrag zu leisten“, sagt der Wissenschaftler. Denn die Internetplattform verbindet Crowdsourcing mit Photogrammetrie: Weltweit kann jeder Fotos von Kulturdenkmälern hochladen oder diese zu 3D-Modellen verarbeiten. Über die 3D-Plattform Sketchfab werden sie auf die Projektseite eingebunden. „Nur durch die weite Verbreitung von Digitalkameras und Fototelefonen wurde diese Art der 3D-Rekonstruktionen überhaupt möglich“, sagt Coughenour.

2015 von der Terrormiliz IS zerstört, von Nachwuchswissenschaftlern digital wieder zum Leben erweckt: ein Eingang der im 13. Jahrhundert vor Christus im heutigen Nordirak gegründeten antiken Stadt Nimrud, Hauptstadt des assyrischen Reichs.
2015 von der Terrormiliz IS zerstört, von Nachwuchswissenschaftlern digital wieder zum Leben erweckt: ein Eingang der im 13. Jahrhundert vor Christus im heutigen Nordirak gegründeten antiken Stadt Nimrud, Hauptstadt des assyrischen Reichs.

Bis heute betreiben die beiden Rekrei-Gründer das Projekt allein durch Spenden, denn es ist nicht Teil ihrer Forschung für das ITN-DCH-Projekt. Allerdings steuerte Rekrei zu ihrer Arbeit rund um die Bewahrung kulturellen Erbes im Internet-Zeitalter eine zentrale Erkenntnis bei: Die freiwillige Beteiligung von Menschen weltweit ist so groß, dass es gar keines eigens für die Sammlung der Daten angestellten Teams bedarf. Bis zu 100 Mails am Tag seien in der Anfangszeit eingegangen, „darunter von 3D-Artists, die ansonsten Hollywood-Filme machen“. 364 Menschen arbeiten an Rekrei mit. Das sei auch der große Vorteil der Idee: Kein Archäologe muss hinfahren, um ein Denkmal zu sichern.

Kein Original, aber gute Nachildung

Wer ein Kulturdenkmal bewahren will, hinterlegt seine Fotos auf der Internetseite rekrei.org, woraus dann jemand anderes die Animation erstellt. „3D-Modelle aus Crowdsourced-Bildern entsprechen nicht exakt dem Original“, sagt Coughenour. „Aber ist das Original verloren, bleibt uns zumindest eine gute Nachbildung erhalten.“ Inzwischen hat sogar die UNESCO mit ihrer Kampagne zum Erhalt kulturellen Erbes die Rekonstruktionen von Rekrei auf die Webseite reclaimhistory.org aufgenommen. Erst als er seine Dissertation weitgehend fertiggestellt hatte, wurde Rekrei auch Teil von Coughenours Arbeit am IfP. So betreut er beispielsweise studentische Arbeiten, von der sich eine mit der Rekonstruktion des Tempels von Palmyra befasst, der ebenfalls zerstört wurde.

Chance Coughenour und Matthew Vincent entwickeln Rekrei derweil stetig weiter: Inzwischen integriert ein Tool alle relevanten Bilder aus der Fotogemeinschaft Flickr, wenn der Fotograf sie freigegeben hat. „Die Fotos, die wir brauchen, sind alle bereits im Netz“, sagt Coughenour. Der Experte für digitale Archäologie und Photogrammetrie schätzt, dass in wenigen Jahren Software zur Verfügung stehen wird, die den Prozess von der Fotosammlung zum 3D-Objekt automatisiert. Dies würde die digitale Sicherung des Weltkulturerbes enorm beschleunigen und wäre auch für andere Bereiche nutzbar. Aus Coughenours Sicht ist es daher sowohl für die öffentliche Hand als auch für Unternehmen attraktiv, Projekte wie Rekrei zu unterstützen. „Photogrammetrie wurde in Deutschland erfunden, deshalb wäre es großartig, wenn wir hier eine Finanzierungsmöglichkeit finden könnten.
Daniel Völpel

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