Schlaue Bohrer

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Maschinelles Lernen in der Zerspanungstechnologie
[Foto: C. Camus/stock adobe]

Ein Produktionsschritt setzt auf dem anderen auf, die unterschiedlichen Herstellungsprozesse greifen reibungslos ineinander: Was in der industriellen Fertigung heute teils so einfach aussieht, ist mit einem gewaltigen Aufwand und viel Erfahrung verbunden. Nur deshalb lassen sich heute Massenprodukte mit null oder fast keinem Fehler wirtschaftlich herstellen. Den Entwicklern und Bedienern kommt dabei eine wichtige Rolle zu. Am Institut für Werkzeugmaschinen (IfW) der Universität Stuttgart wird erforscht, wie sich zerspanende Fertigungssysteme selbst optimieren können.

Bohrung ist Bohrung – das stimmt nur vordergründig. Tatsächlich können sie sich, obwohl mit demselben Bohrer auf derselben Maschine entstanden, sogar ziemlich voneinander unterscheiden. Womöglich sind die Bohrungen nämlich minimal elliptisch oder ihre Innenflächen sind unterschiedlich rau. Selbst wenn die Abweichungen nur im Bereich von einigen tausendstel Millimetern liegen, kann das im industriellen Alltag den Unterschied zwischen Qualitätsprodukt und Ausschuss bedeuten. „Die Ursachen für diese Schwankungen können vielfältiger Natur sein“, sagt Rocco Eisseler, Gruppenleiter Zerspanungstechnologie am IfW der Universität Stuttgart. „Drehzahl oder Vorschub des Bohrers spielen dabei eine Rolle, die Art des Materials von Werkstück und Bohrer, aber auch Faktoren wie die Kühlung während des Bohrens.“ Wie man es dreht und wendet: Keine Bohrung ist wie die andere. Und das gilt im Ergebnis auch für jede andere Zerspanungstechnologie, etwa für das Drehen oder Fräsen.

Das Team um Rocco Eisseler (li.), Gruppenleiter Zerspanungstechnologie am Institut für Werkzeugmaschinen (IfW)
Das Team um Rocco Eisseler (li.), Gruppenleiter Zerspanungstechnologie am Institut für Werkzeugmaschinen (IfW), erforscht, wie sich zerspanende Fertigungssysteme selbst optimieren können.

Arbeiten im Grenzbereich

„Natürlich haben die Personen, die solche Fertigungsmaschinen bedienen, das Wissen und die Erfahrung, um bei den vorgegebenen Toleranzen ein Werkstück in der erforderlichen Qualität herzustellen“, sagt Eisseler. „Ausgehend von den Vorgaben der Werkzeughersteller ist es jedoch meist erforderlich, die Bearbeitungsparameter speziell an die jeweiligen Zerspanungsprozesse anzupassen, also immer das Optimum zu finden.“ Zum Beispiel, wenn es sich um sehr komplexe Anforderungen beim Werkstück handelt, oder wenn es darum geht, einen Fertigungsprozess möglichst wirtschaftlich zu gestalten. „Und immer gibt es das Problem, dass all die genannten Einflussgrößen sich gegenseitig beeinflussen“, sagt der Gruppenleiter. Bei einer bestimmten Drehzahl und einem bestimmten Vorschub des Bohrers erfüllt vielleicht die Bohrung die geometrischen Qualitätsvorgaben, aber womöglich verschleißt der Bohrer relativ schnell. Das erzwingt dann nicht nur seinen schnelleren Austausch, vielmehr führt der Verschleiß auch zu einer geringeren Qualität des Ergebnisses in puncto Rundheit und Oberflächenrauigkeit.

Alles hängt also mit allem zusammen. „Wir haben daher exemplarisch am Beispiel des Bohrens erforscht, wie sich mit einem Expertensystem die verschiedenen Anforderungen an den Fertigungsprozess optimieren lassen“, sagt der Wissenschaftler. Dazu bedurfte es vieler Bohrungen. Der Durchmesser des Bohrers und das Material des Werkstücks waren jedoch immer gleich. „Was variierte, waren quantifizierbare Parameter, also etwa die Drehzahl und die Vorschubgeschwindigkeit“, so Eisseler. Diese Eingangsgrößen galt es dann mit den Ausgangsgrößen von Rundheit und Oberflächenrauigkeit in Beziehung zu setzen. Dazu bediente sich das Team eines Verfahrens, das als Bayes-Netz bezeichnet wird. „Bayes- Netze ermöglichen es, einen Zusammenhang zwischen Ursache und Wirkung herzustellen, auch wenn es keine einfachen kausalen Zusammenhänge gibt“, erklärt Eisseler. „Mit ihnen lässt sich auch berücksichtigen, dass sich der Verschleiß des Bohrers sowohl auf die Eingangs- als auch auf die Ausgangsgrößen auswirkt – Bayes-Netze funktionieren sozusagen in beide Richtungen.“ Das sei insofern entscheidend, weil so neben den Korrelationen eben auch Kausalitäten erkennbar seien.

Bayes- Netze ermöglichen es, einen Zusammenhang zwischen Ursache und Wirkung herzustellen, auch wenn es keine einfachen kausalen Zusammenhänge gibt.

Rocco Eisseler

Interdisziplinäre Zusammenarbeit

Die größere Vision hinter solchen Forschungsarbeiten ist die des sich selbst optimierenden Fertigungssystems. IfW-Direktor Prof. Hans-Christian Möhring erklärt: „So ein System identifiziert selbstständig die Optimierungspotenziale eines Fertigungsprozesses und leitet die erforderlichen Maßnahmen ein, um diese Potenziale zu heben.“ Entweder kann dies automatisch geschehen – ein Schwerpunkt in der Forschung des IfW – oder in der Interaktion mit der Bedienerin oder dem Bediener. „Aktuell ist so ein System nur eine Vision“, sagt Möhring, „denn der ausgebildete menschliche Bediener kann vielfältige Informationen permanent erfassen, sich anbahnende Zustände intuitiv antizipieren und quasi in Echtzeit bei der Prozessführung berücksichtigen.“ Aber mithilfe des maschinellen Lernens soll sich das künftig ändern. „Das können wie im Fall des Bohrprozesses Bayes-Netze sein, es sind aber auch ganz andere Methoden wie etwa tiefe neuronale Netze denkbar“, sagt der Ingenieur. Letztlich komme das auf die konkrete Fragestellung an. „Wir arbeiten dazu interdisziplinär mit anderen Fakultäten von inner- und außerhalb der Universität zusammen.“

Dabei geht Möhrings Team das selbst optimierende Fertigungssystem ganzheitlich an, ausgehend von der Definition des Zerspanungsprozesses in den CAD/CAM-Programmen und endend mit dem fertigen Resultat, der Qualität des Werkstücks und dem Verschleiß des Werkzeugs. „Wichtig ist immer, die dabei gewonnenen Erkenntnisse auf die Prozessparameter zurückzuführen“, betont Möhring. „Angesichts der mannigfaltigen, teils gegenläufigen Abhängigkeiten ist das nicht einfach.“ In der Industrie steckt das Thema noch in den Kinderschuhen. „Aber es gibt eine große Aufgeschlossenheit seitens der Hersteller und der Anwender der Fertigungssysteme“, so Möhring. „Nicht zuletzt durch das Schlagwort Industrie 4.0 verändert sich die Wahrnehmung.“ Auch wenn die Vision des selbst optimierenden Fertigungssystems sehr viel älter sei als die Digitalisierung der industriellen Produktionsprozesse, fügt er an. „Es gibt Betriebe, die schon viele Jahre Daten aus der Fertigung sammeln. Ungelöst ist bei vielen die Frage, wie sie diese Daten nutzen können.“ Hier gibt es aus seiner Sicht jedoch nicht die eine Lösung, sondern nur Antworten auf jeden Einzelfall.

Auch bei der Frage, ob selbst optimierende Fertigungssysteme künftig automatisch agieren sollen oder nur in Interaktion mit dem Bediener, gibt es in Möhrings Augen kein einfaches Ja oder Nein. Das verdeutlicht er mit einer Analogie zum autonomen Fahren: „Würden Sie sich einem autonomen Fahrzeug bei 160 Kilometer pro Stunde blind anvertrauen oder müsste Ihnen das Auto zumindest regelmäßig und nachvollziehbar signalisieren, dass es alles im Griff hat?“, fragt er – und es klingt rhetorisch.

Michael Vogel

Dipl.-Ing. Dipl.-Gwl. Rocco Eisseler
Gruppenleiter Zerspanungstechnologie am Institut für Werkzeugmaschinen (IfW), Universität Stuttgart.

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