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Auf den Spuren der Geschichte der Informationsästhetik und den Ursprüngen der „digitalen Literatur“

Der Kulturwissenschaftler Claus-Michael Schlesinger forscht am Institut für Literaturwissenschaft der Universität Stuttgart zur Geschichte der Informationsästhetik und befasst sich auch mit der Frage, ob Computer eines Tages Romane schreiben werden.

Literatur oder Texte, die auf mehreren Ebenen Informationen liefern, gelten als Privileg der intellektuellen Leistungsfähigkeit des menschlichen Gehirns. Dieser Annahme würde Claus-Michael Schlesinger jedoch nur bedingt zustimmen. Der wissenschaftliche Mitarbeiter in der Abteilung Digital Humanities am Institut für Literaturwissenschaft der Universität Stuttgart weiß, dass Computer durchaus in der Lage sind, sinnhaltige Texte zu schreiben. Mehr noch: Solche Texte sind nicht einmal eine Innovation unserer Zeit, in der Künstliche Intelligenz zunehmend Raum im Alltag der Menschen gewinnt. So war Stuttgart schon in der Frühzeit des Computers nicht nur ein Zentrum technischer Entwicklung, sondern auch der verblüffenden Nutzung von Computertechnik für die Kunst.

Erfinder Konrad Zuse an einer Zuse-Rechenanlage
Dass seine Zuse-Rechenanlagen einmal dazu genutzt würden, Kunst zu schaffen, hätte ihr Erfinder Konrad Zuse sich sicherlich nicht träumen lassen.

Erste Versuche

„NICHT JEDER BLICK IST NAH UND KEIN DORF IST SPAET“. Diesen Satz gab 1959 eine Zuse Z22-Rechenanlage an der Universität Stuttgart aus, die zu den ersten in Deutschland in Serie gebauten Röhrenrechnern gehörte. Der gebürtige Esslinger Theo Lutz, Informatiker und langjähriger Professor an der Hochschule Esslingen, hatte einen Algorithmus geschrieben und den Rechner mit je 16 Subjekten und Prädikaten aus Franz Kafkas „Das Schloss“ sowie logischen Konstanten und Operatoren gefüttert. Das Ergebnis waren mehrere Millionen möglicher Satzpaare wie das oben genannte, die ersten literarischen Versuche mithilfe des Computers.

„Lutz hat sogenannte kombinatorische Textgeneratoren genutzt“, erklärt Claus-Michael Schlesinger. In einem weiteren Versuch erzeugte das Programm zufällige mathematische Sätze, die Lutz anhand einer „Wahrheitsmatrix“ überprüfte. Je ausführlicher die Matrix, umso besser sollte sie selbst einschätzen, welcher Satz tatsächlich wahr ist. „Das war ein sehr früher Vorschlag dafür, was man heute als Künstliche Intelligenz bezeichnet“, so Schlesinger. Zwar sei diese Idee vor fast 60 Jahren vor allem theoretisch entwickelt und noch nicht praktisch umgesetzt worden, dennoch lasse sich von Lutz’ Ansätzen eine direkte Linie zur Künstlichen Intelligenz nach heutigen Maßstäben ziehen. Claus-Michael Schlesinger kam 2016 als Postdoc in die Abteilung Digital Humanities, um seine Arbeiten zur Geschichte der Informationsästhetik fortzusetzen. „Es ist für mich ein großes Glück, hier zu arbeiten, weil Stuttgart ein Hotspot im Zusammenspiel von Kybernetik und Geisteswissenschaft war.”

Zu Schlesingers Arbeit gehört es unter anderem, damals entstandene Texte nicht nur auszuwerten, sondern teilweise sogar wiederzuentdecken, denn die literarischen Pioniertaten sind in vielen Fällen nur als Ausdrucke auf Papier erhalten. So erhielt Schlesinger vom langjährigen Leiter des Instituts für Deutsche Sprache in Mannheim, einen Karton mit bislang unveröffentlichten Texten. Darunter befand sich auch der Programmcode, den Stickel in den 1960er-Jahren als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Deutschen Rechenzentrum in Darmstadt geschrieben hatte, um seine „Autopoeme“ auf einer IBM-7090-Maschine zu erstellen.

Es ist für mich ein großes Glück, hier zu arbeiten, weil Stuttgart ein Hotspot im Zusammenspiel von Kybernetik und Geisteswissenschaft war.

Dr. Claus-Michael Schlesinger
Computer-Platine
Sind Rechner die besseren Autoren? Nach Meinung des Kulturwissenschaftlers Claus-Michael Schlesinger werden literarisch anspruchsvolle Romane wohl auch längerfristig noch die Sache von Schriftstellern bleiben.

In den 60er-Jahren gab es eine ganz andere Geisteswissenschaft, die mit Informationstheorie und Kybernetik nichts zu tun hatte und vor allem werkimmanente Interpretation betrieb.

Dr. Claus-Michael Schlesinger

Am Anfang stand der Großrechner

Den Begriff der Informationsästhetik hat der Philosoph Max Bense geprägt, der ab 1949 an der Universität Stuttgart lehrte. Benses Ansatz: mit informationstheoretischen Mitteln und den damals verfügbaren Großrechnern ästhetische Ausdrucksformen zu finden. Aus heutiger Sicht, da Computer vielfach untrennbar an der Entstehung von Musik oder bildender Kunst beteiligt sind, mag das wie aus der Zeit gefallen erscheinen. Aber, so Schlesinger, „in den 60er-Jahren gab es eine ganz andere Geisteswissenschaft, die mit Informationstheorie und Kybernetik nichts zu tun hatte und vor allem werkimmanente Interpretation betrieb.“ Die informationsästhetische Richtung hingegen dachte weit in die Zukunft, wie Schlesinger bestätigt.

Die Sorge, Rechner könnten eines Tages selbstständig literarisch anspruchsvolle Romane schreiben, entkräftet Schlesinger. Grammatisch richtige Sätze seien noch relativ einfach zu erlernen, bei der Semantik, der Inhaltsebene eines Textes, seien die Maschinen jedoch weitgehend überfordert. „Man müsste sie mit extrem großen Textmengen füttern, um sie Semantik lernen zu lassen.“ Und selbst dann würde noch immer die tatsächlich literarische Ebene, die Poetik des Textes, fehlen.

Zu Zeiten von Bense und Lutz wurde so stark experimentell gearbeitet, dass Texte von literarischer Qualität entstanden. Bis heute überdauert haben aber wohl vor allem die theoretischen Grundlagen. Dass ästhetische Fragen eine Rolle bei der Entwicklung komplexer Systeme zu spielen begannen, führte auch zu heutigen Maschinen, die als Bots Social-Media-Kommentare schreiben oder Sport- und Börsenergebnisse zu journalistischen Meldungen umformulieren. „Mein Eindruck ist, dass im Hinblick auf solche Gebrauchstexte viel geschieht, weil das auch industrielle Anwendungen verspricht“, sagt Schlesinger. In der „digitalen Literatur“ werde aktuell wieder viel experimentiert. Gerade der sogenannte Uncanny-Effekt, also das etwas Unheimliche und Mysteriöse computergenerierter Literatur, finde dabei durchaus eine kleine Fan-Gemeinde.

Jens Eber

Claus-Michael Schlesinger
Institut für Literaturwissenschaft/ Abteilung Digital Humanities, Universität Stuttgart

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