Im Namen des Volkes?

Faktor X - Geist trifft Maschine

Lobbyarbeit auf dem Prüfstand
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In einer idealen Welt tragen Lobbyisten dazu bei, dass die Regierenden auf die politische Agenda setzen, was den Bürgerinnen und Bürgern auf den Nägeln brennt. In wieweit Lobbyisten in der realen Welt tatsächlich die Interessen der Menschen repräsentieren, untersuchen Sozialwissenschaftler der Universität Stuttgart gemeinsam mit Teams aus Großbritannien, den Niederlanden und den USA.

Des Volkes Willen drückt sich in Wahlen, Parlamenten und Gesetzen aus, so lauten Maximen der Demokratie. Daneben bemüht sich eine Vielzahl von Verbänden, Vereinen und Initiativen darum, den Regierenden die Präferenzen der Bürger nahezubringen. Die Hürden für die Bildung solcher Organisationen sind niedrig. „Getreu der Devise ‚Wenn jeder an sich selbst denkt, ist an alle gedacht‘ müssten in einem solchen System alle gesellschaftliche Gruppen politisch angemessen repräsentiert sein“, meint Studienleiter Prof. Patrick Bernhagen, Inhaber des Lehrstuhls Politische Systeme und Politische Soziologie an der Universität Stuttgart. „Die Frage ist allerdings, ob es dabei fair zugeht.“ Frühere Untersuchungen des Politikwissenschaftlers lassen Zweifel aufkommen.

Fürsprecher – für wen?

Gerade auf EU-Ebene, so die Ergebnisse einer Erhebung aus dem Jahr 2012, tun sich vermeintlich starke und gut organisierte Verbände wie zum Beispiel der Industrie relativ schwer, ihre Forderungen in Gesetze umzumünzen. Umwelt- und Verbraucherverbände dagegen agieren oft sehr erfolgreich. Die damalige Veröffentlichung löste teils empörte Reaktionen aus, widersprechen die Aussagen doch dem landläufig negativen Bild, das dem Begriff „Lobbyismus“ bis heute anhaftet. Dies mündete in die Idee, die Rolle von Lobbyisten fundiert zu bewerten und zu prüfen, ob das schlechte Image gerechtfertigt ist. Damit war der Grundstein gelegt für ein dreijähriges Forschungsprojekt, das den Titel „Agenden und Interessengruppen“ (AIG) trägt und über die europäische Open Research Area (ORA) noch bis 2019 finanziert wird.

ORA ist eine Kollaboration europäischer Förderinstitutionen, an der auch die Deutsche Forschungsgemeinschaft beteiligt ist. In der Regel arbeiten in ORA-Projekten Universitäten aus drei bis vier europäischen Ländern zusammen. Über Großbritannien können bislang auch US-amerikanische und außerdem im Zweijahres-Rhythmus japanische
Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler einbezogen werden. Bei AIG sind dies neben dem Stuttgarter Team Arbeitsgruppen um Dr. Joost Berkhout (Amsterdam), Dr. Adam Chalmers (London), Prof. Beth Leech (Rutgers, USA) und Dr. Amy McKay (Exeter, Großbritannien). Gegenüber früheren Projekten verschiebt sich in AIG der Fokus: Gefragt wird nicht länger, wer sich am besten durchsetzt, sondern worüber die Akteure reden. „Wir wollen wissen, ob die Lobbygruppen in den verschiedenen Ländern die Vielfalt der Bürgerinteressen weitergeben, oder ob sie womöglich Scheindebatten führen“, spitzt Bernhagen zu.

Soziales, Mieten, Sicherheit

Um sich dieser Frage zu nähern, setzen die Forscherinnen und Forscher auf „Ergebnisoffenheit und Neugier“, so Prof. Bernhagen. Per Telefon wurden zunächst in jedem Teilnehmerland 1.000 Personen aus der Bevölkerung gefragt, welches aus ihrer Sicht das wichtigste Problem ist, das die Politik lösen sollte. Die Antworten sind noch nicht vollständig ausgewertet, bieten auf den ersten Blick jedoch zumindest für Deutschland wenig Überraschendes: Ganz oben auf der Liste stehen sozialpolitische Themen, wie zum Beispiel die Altersversorgung, Bildung und nach wie vor das Thema Flüchtlinge.

Parallel gaben über 100 Lobbyisten verschiedenster Gruppen darüber Auskunft, an welchen großen Themen ihr Verband derzeit arbeitet. Erwartungsgemäß fielen die Antworten hier je nach Struktur der Verbandsmitglieder wesentlich detaillierter aus und umfassten viele Spezialfragen. Zur Sprache kamen aber auch übergreifende Themen, die auch die Bevölkerung umtreiben, wie etwa die Digitalisierung der Arbeitswelt oder der Klimawandel. Die Themenpräferenzen von Bevölkerung und Lobbyisten vergleichbar zu machen, ist allerdings eine Herausforderung. Helfen soll dabei ein Codier-Schema, das die Antworten zu bestimmten Themenfeldern aggregiert. Auf diese Weise wollen die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler neun Themen herausfiltern, die von den Interessenverbänden am häufigsten bearbeitet werden. Zu diesen „Lieblingsthemen“ wird in einer zweiten Erhebungswelle die Bevölkerung gezielt erneut befragt. Wie wichtig ist den Menschen, um beim Beispiel zu bleiben, das Megathema Klimawandel tatsächlich und wo zwischen Ökonomie und Ökologie verorten sie sich dabei persönlich? „Da werden wir von Daimler-Mitarbeitern möglicherweise andere Antworten bekommen als von Mitgliedern der Grünen“, mutmaßt Bernhagen.

Im Ausland dominieren Brexit und Trump

Ein Vergleich über die Grenzen der beteiligten Länder hinweg wird zudem dadurch erschwert, dass aktuelle Krisen die Wahrnehmung wichtiger Themen stark beeinflussen. Diese „Aufreger“ sind von Land zu Land sehr unterschiedlich ausgeprägt. „In Großbritannien ist derzeit der ‚Brexit‘ sehr dominant und in den USA reden die Menschen hauptsächlich über Donald Trump. Dadurch rücken andere Themen ein wenig in den Hintergrund“, erklärt Bernhagen. Die ursprüngliche Sorge der Wissenschaftler, die Umfrage zeige keine ausreichende Varianz, bestätigte sich jedoch nicht: „Es gab auch viele andere Themen.“

Der Anspruch der Studie geht über die obligate Lobbyismus-Debatte hinaus und trägt normative Züge. „Wenn wir abschätzen können, wie groß die Diskrepanz zwischen den Themen der Verbände und denen der Bevölkerung ist, erlaubt das Rückschlüsse darauf, wie authentisch organisierte Interessen die Wünsche und Ängste der Bevölkerung abbilden. Letztlich sagt dies etwas aus über das Funktionieren der Demokratie“, meint Bernhagen. Auch die Repräsentativität und damit die Qualität der Lobbyarbeit im Ländervergleich wird aus den Daten erkennbar. Zudem lässt sich anhand des Codier-Schemas ersehen, inwieweit konkrete Agenden der Gesetzgebung, beispielsweise im Koalitionsvertrag, die Präferenzen der Bürgerinnen und Bürger abbilden.

Konkrete Empfehlungen an die Politik wollen die Forscher aus der Grundlagenstudie nicht ableiten, praktische Implikationen hat sie dennoch. Je nach Ergebnis könnten Politiker zu dem Schluss kommen, dass man das Antichambrieren von Lobbyisten nicht immer ernst nehmen muss, meint Bernhagen augenzwinkernd. „Oder umgekehrt, dass sie Lobbyisten künftig noch mehr Gehör schenken sollten.“
Andrea Mayer-Grenu

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