"Europäischen Forschungsraum optimal nutzen"

Gemeint

EU-Kommissar Günther H. Oettinger erklärt, was die Politik tun kann, damit die Vorzüge von Wissenschaft und Innovation der gesamten Gesellschaft zugutekommen.
[Foto: Europäische Kommission/François Walschaerts]

Europa muss innovativer werden, als es heute bereits ist. Eine wichtige Voraussetzung dafür ist, den europäischen Forschungsraum optimal zu nutzen, etwa indem Wissenschaftler und hoch qualifizierte Arbeitskräfte in der gesamten EU arbeiten und forschen können. Was sich seitens der Politik tun lässt, damit dieVorzüge von Wissenschaft und Innovation nicht nur von den Bürgern verstanden werden, sondern der gesamten Gesellschaft zugutekommen, erklärt EU-Kommissar Günther H. Oettinger in seinem Gastbeitrag für forschung leben.

Gut ausgebildete, motivierte junge Menschen sind die Zukunft Europas. Ihre Talente gilt es, zu stärken.

Günther H. Oettinger Europäischer Kommissar für Haushalt und Personal

Fast all unsere Lebensbereiche sind heute von der Wissenschaft durchdrungen. Dank Wissenschaft und Forschung werden Produkte und Dienstleis-tungen immer besser, Arbeitsplätze und neue Investitionsmöglichkeiten entstehen. Wissenschaftliche Erkenntnisse helfen auch der Politik, auf die großen Herausforderungen in den Bereichen Gesundheit, Klimaschutz, nachhaltige Energieversorgung, Migra­tion, Inklusion, und nicht zuletzt in der digitalen Wirtschaft, angemessen und auf Daten und Fakten basierend zu reagieren.

Auch auf EU-Ebene spielen Wissenschaft und Innovation eine zentrale Rolle. Wir vergeben Forschungsgelder im Rahmen des 8. mehrjährigen Forschungsrahmenprogramms „Horizont 2020“ (2014–2020) und haben Initiativen gestartet, die einen europäischen Forschungsraum mit optimalen Rahmenbedingungen für Wissenschaft und Innovation schaffen soll. Auch bei der Gesetzgebung und Politikgestaltung spielt Wissenschaft eine wichtige Rolle. Wir beziehen wissenschaftliche Erkenntnisse ein, seien es Daten und Fakten von EU-Agenturen, Ausschüssen, Sachverständigengruppen oder der hochrangigen Gruppe wissenschaftlicher Berater der EU-Kommission. 

Europa muss aber noch weit innovativer werden, als es heute schon ist, und zum Ziel haben, zum Vorreiter im globalen Wettbewerb zu avancieren. Dabei sollten wir, aufbauend auf die nationalen Stärken,den europäischen Forschungsraum optimal nutzen, in dem Wissenschaftler und hoch qualifizierte Arbeitskräfte in der ganzen EU arbeiten und forschen können und auch dafür sorgen, dass die Vorzüge von Wissenschaft und Innovation nicht nur von den Bürgern verstanden werden, sondern der ganzen Gesellschaft zugutekommen.

Offene Wissenschaft zu praktizieren, ist eine der zen­tralen Herausforderungen für die modernen Hochschulen der Zukunft.

Günther H. Oettinger, Europäischer Kommissar für Haushalt und Personal

Über Grenzen und Disziplinen hinweg

Im Rahmen von Horizont 2020 sind dafür 80 Milliarden Euro vorgesehen. Wir finanzieren daraus Forschungsprojekte, die für die EU in wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Hinsicht von strategischer Bedeutung sind. Vorrang haben Forschungskooperationen und Konsortien, denen Hochschulen, Forschungsorganisationen und Unternehmen aus verschiedenen EU-Ländern angehören. Horizont 2020 ist nach wie vor das einzige Programm dieser Art, indessen Rahmen die Zusammenarbeit von Hochschulen aus einem Mitgliedstaat und Wirtschaftszweigenaus anderen Mitgliedstaaten in Grundlagen- und angewandter Forschung über Grenzen hinweg länder- und disziplinübergreifend finanziell gefördert werden können. Die Rahmenprogramme haben aber auch zum Ziel, Innovationen, die Mittelständlern zugutekommen, zu fördern. Zudem können Forschungsgelder aber auch schnell abgerufen werden, um auf Krisen zu reagieren, wie beispielsweise bei Ausbruch des Ebola- und Zika-Virus.

Im Bereich der Pionierforschung fördert Horizont 2020 Spitzenleistungen der europäischen Wissenschaft. Gefördert werden von Wissenschaftlern selbst angeregte „Bottom-up“-Forschungsprojektein allen Bereichen der Wissenschaft, Innovation und Lehre. Viele europäische Wissenschaftler konnten schon von Marie-Skłodowska-Curie-Stipendien profitieren, und die Finanzhilfen des Europäischen Forschungsrats sind dafür bekannt, Spitzenleistungen zu belohnen. Die Vorteile liegen klar auf der Hand: eine Fülle von renommierten Veröffentlichungen und die Mitwirkung von einer immer größer werdenden Zahl renommierter Wissenschaftler. Die Zwischenbewertung von Horizont 2020 fällt daher sehr positiv aus. Bisher sind über 100.000 Anträge auf Fördermittel eingegangen – weit mehr als im vorherigen 7. Rahmenprogramm.

Vergeben wurden die Forschungsgelder an führende Hochschulen und private Forschungseinrichtungen aus mehr als 130 Ländern. Im Vergleich zum 7. Rahmenprogramm sind auch deutlich mehr private Forschungseinrichtungen zum Zuge gekommen. Knapp ein Viertel der Mittel wurde für Innovationen verwendet, die den Mittelständlern zugutekommen. Dies ist mehr als der Richtwert. Das Forschungsprogramm ist zudem kosteneffizient, weil die Verwaltungskosten sehr gering sind und die Regeln erheblich vereinfacht wurden. Horizont 2020 hat einen klaren europäischen Mehrwert, denn 83 Prozent der geförderten Projekte wären ohne finanzielle Unterstützung von der EU nicht durchgeführt worden.

Gesellschaft einbeziehen

Für das künftige Rahmenprogramm müssen wir meiner Meinung nach Folgendes berücksichtigen. Der erste Punkt betrifft die Bedeutung des Humanfaktors. Dies wurde auch im deutschen Positionspapier zum 9. Forschungsrahmenprogramm (ab 2021), dem Nachfolger von Horizont 2020, hervorgehoben: „Eine Stärke Europas ist die große Zahl gut ausgebildeter, motivierter junger Menschen. Sie bilden und gestalten die Zukunft Europas. Ihre Talente müssen wir insbesondere stärken, sei es als junge Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, die an verschiedenen Orten in Europa Erfahrungen sammeln, sei es als junge Unternehmerinnen und Unternehmer, die mit der Umsetzung ihrer Ideen die Welt Offene Wissenschaft zu praktizieren, ist eine der zen­tralen Herausforderungen für die modernen Hochschulen der Zukunft verändern. Wir müssen den Blick weiten und von Beginn an die Bedarfe der Bürgerinnen und Bürger mit berücksichtigen und angemessene Formen der Bürgerbeteiligung entwickeln.“ Es ist äußerst wichtig, Bürgerinnen und Bürger mit einzubeziehen und auf ihre Belange einzugehen. Offene Wissenschaft zu praktizieren – und dazu gehört auch, anderen Wissenschaftlern und der breiten Öffentlichkeit Zugang zu wissenschaftlichen Artikeln und Daten zu gewähren –, wird eine der zentralen Herausforderungen für die modernen Hochschulen der Zukunft sein.

Zweitens muss Europa im Bereich Innovation mehr tun. Unsere Konkurrenten in den USA und Asien sind bei der Gründung innovativer Unternehmen führend, und viele der Unternehmensgründer sind noch nicht einmal 20 Jahre alt. Beispiele sind Unternehmen wie Tencent, Alibaba, Netflix und Paypal. In Europa ist die Zahl solcher Blockbuster-Unternehmen überschaubar. In Europa wird fünf Mal weniger Wagniskapital mobilisiert als in den USA. Im nächsten Forschungsrahmenprogramm muss daran gearbeitet werden. Ein neuer Europäischer Innovationsrat soll innovativen Start-ups in Europahelfen. Dazu braucht es natürlich öffentliche Gelder, aber mehr noch Investitionen und Wagniskapital von privater Seite.

Drittens hat die italienische Ökonomin Marianna Mazzucato kürzlich in einem Bericht an die Kommission nachdrücklich für auftragsorientierte Forschung plädiert – eine Politik, die systematisch auf Pionierwissen und auf das Prinzip „große Wissenschaft löst große Probleme“ setzt. Dieses Konzept zielt auf Lösungen für die vielen Herausforderungen in unserem Alltag. Dies erfordert die aktive Mitwirkung aller Arten von Stakeholdern, die zu konkreten Lösungen beitragen können, damit das Konzept maximale Wirkung zeigt. Allerdings wage ich zur behaupten, dass Horizont 2020 mit 80 Milliarden Euro immer noch unterfinanziert ist, selbst wenn man weiß, dass der EU-Etat für Forschung seit den 1980er-Jahren stetig gestiegen ist. Denn es werden weit mehr Anträge auf finanzielle Unterstützung gestellt als Mittel verfügbar sind, was für die Antragsteller eine enorme Verschwendung von Ressourcen und für Europa den Verlust vieler guter Vorschläge bedeutet. Gegen diese in den meisten EU-Mitgliedstaaten zu beobachtende Unterfinanzierung im Bereich Forschung und Innovation vorzugehen, ist eine Voraussetzung dafür, dass Europa im Wettbewerb mit den größten „Global Players“im Bereich Forschung und Innovation wie vor allem China mithalten kann. Aber die Differenz zur Zielgröße von drei Prozent des Bruttoinlandsprodukts kann nicht allein durch den EU-Etat für Forschungund Innovation überbrückt werden.

Die Universität Stuttgart ist eine der erfolgreichsten deutschen Universitäten, die Forschungsgelder aus dem Programm Horizont 2020 bekommt. Sie ist an 82 im Rahmen von Horizont 2020 geförderten Projekten beteiligt und hat bisher über 41 Millionen Euro an EU-Mitteln erhalten. In dieser Ausgabe des Magazins forschung leben finden Sie einige herausragende Beispiele für Forschungsprojekte der Universität Stuttgart, die im Rahmen von Horizont 2020 gefördert werden. Ich bin zuversichtlich, dass die Universität Stuttgart auch weiterhin einen sehr wertvollen Beitrag zur europäischen Forschung und Gesellschaft allgemein leisten wird.

Günther H. Oettinger,

Europäischer Kommissar für Haushalt und Personal

Günther H. Oettinger war von 2005 bis 2010 Ministerpräsident von Baden-Württemberg. Seit Februar 2010 ist er für die Europäische Kommission tätig. Bis Oktober 2014 zeichnete er als EU-Kommissar für den Bereich Energie verantwortlich, von November 2014 bis Dezember 2016 für die digitale Wirtschaft und Gesellschaft. Seit Januar 2017 ist er EU-Kommissar für Haushalt und Personal.

Kontakt

 

Hochschulkommunikation

Keplerstraße 7, 70174 Stuttgart

Zum Seitenanfang