Mensch – Maschine – Prothese

August 2, 2012, Nr. 55

Diskussion um Olympiateilnehmer Oscar Pistorius

Oscar Pistorius, dessen Unterschenkel beide schon im Kindesalter amputiert wurden, ist ein Athlet, der mit Prothesen so schnell auf 400 Meter sprintet, dass er die Olympia-Norm für gesunde Athleten geknackt hat. Der Südafrikaner nimmt jetzt an den Olympischen Spielen 2012 in London teil. Lange vor Beginn der Olympiade entstand eine intensive Diskussion darüber, ob er durch die Prothesen Vorteile hat und deshalb von den regulären Spielen ausgeschlossen werden müsste. Dieses aktuelle Beispiel griffen die Sport- und Bewegungswissenschaftler der Universität Stuttgart in einer Lehrveranstaltung auf. In dem Seminar „Mensch – Maschine – Prothese. Der Präzendenzfall Oscar Pistorius“ untersuchten Studierende die vielfältigen Argumente für und gegen die Teilnahme des Sportlers.

Pistorius hat mit seinen Leistungen ein breites öffentliches Interesse an seiner persönlichen Geschichte und der von Beinamputierten geweckt. Letzendlich entschied ein Gerichtsverfahren unter Hinzuziehung eines biomechanischen Gutachtens, dass Pistorius teilnehmen dürfe. Wegen der hohen Aktualität und der Aussrichtung an praxisnahen Themen in der Lehre boten die Forscher der Projektgruppe „Computersimulation menschlicher Bewegung“ des Instituts für Sport- und Bewegungswissenschaft der Universität Stuttgart (Inspo) zu diesem Thema ein interdisziplinäres Seminar an. Unter Leitung des Biomechanikers Daniel Häufle erörterten die Studierenden die vielfältigen Argumente für und gegen die Teilnahme Oscar Pistorius' an den regulären olympischen Spielen.

Zunächst beschäftigten sich die Studierenden mit biomechanischen und physikalischen Fragestellungen und Untersuchungsmethoden. Darüber hinaus standen auch sportmedizinische Aspekte im Mittelpunkt. Sie analysierten, was Laufen eigentlich ausmacht. Welche Rolle spielen beispielsweise Kräfte und Momente, wie können sportliche Bewegungen und der Energie- und Sauerstoffverbrauch gemessen werden und welche Bedeutung haben diese Werte? Um auch die sportrechtlichen Aspekte des Falls zu betrachten, wurde zudem ein Rechtsanwalt und Experte für Sportrecht in das Seminar mit einbezogen. Er stellte die juristischen Sachverhalte dar und erklärte, auf welchen Grundlagen die jeweiligen Entscheidungen des „Internationalen Leichtathletikverbandes" (IAAF) und des „Court of Arbitration for Sport" (CAS) getroffen wurden.

 
Fünf Schwerpunkte arbeiteten die Studierenden anschließend heraus. Sie befassten sich mit der Biographie und den sportlichen Leistungen von Oscar Pistorius und analysierten die Gutachten, die zunächst zum Ausschluss und dann zu dessen Aufhebung geführt haben. Zudem untersuchten die Seminarteilnehmer allgemein passive und aktive Hilfsmittel und Prothesen im Sport und im Alltag und befassten sich mit Sensorik, Motorik und Kognition und der Frage, welche Veränderungen hier bei Amputationen stattfinden. Auch die sozialwissenschaftlichen Aspekte, wie zum Beispiel die Gleichstellung von Behinderten unter anderem im Schulsport wurden betrachtet.
 
Zu Beginn des Seminars sprach sich die Mehrheit der Studierenden gegen eine Teilnahme von Pistorius bei den Olympischen Spielen aus. Am Ende des Seminars fand eine zweite Abstimmung statt, bei der sich keiner der Studierenden gegen die Teilnahme entschied. Als Hauptgrund für die geänderte Sichtweise gaben die Seminarteilnehmer an, dass Oscar Pistorius nach aktuellem Stand durch die Verwendung der Prothese kein genereller Vorteil nachgewiesen werden kann und damit also ein Ausschluss nicht gerechtfertigt wäre. Außerdem sahen die Studierenden in seiner Teilnahme eine große Chance für die Leichtathletik und den Behindertensport im Sinne der Medienaufmerksamkeit und der Akzeptanz in der Bevölkerung.
 
Im Mittelpunkt der Forschung der Projektgruppe „Computersimulation menschlicher Bewegung“ stehen künstliche Muskeln. Hier geht es darum, zu untersuchen und zu quantifizieren, welche Rolle die speziellen mechanischen und dynamischen Eigenschaften der Muskeln bei der Erzeugung und Kontrolle von (Lauf-)Bewegungen spielen. Dies ist einerseits relevant, um zu erkennen, welche Unterschiede (Vor-/ Nachteile) man erhält, wenn diese Eigenschaften der Muskeln nicht vorhanden sind. Gleichzeitig ergeben sich auch Hinweise darüber, was in zukünftigen Generationen von Antrieben für aktive Prothesen berücksichtigt werden sollte.
 

Ihr Ansprechpartner:

Dr. Syn Schmitt, Institut für Sport- und Bewegungswissenschaft, Leiter der Projektgruppe Computersimulation menschlicher Bewegung

Tel. 0711/685-60484

E-Mail: schmitt(at)inspo.uni-stuttgart.de

www.inspo.uni-stuttgart.de/cshm

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