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Stuttgarter unikurier Nr. 88 Dezember 2001
Altmeister südwestdeutscher Landesgeschichte:
Zum Tod von Otto Borst
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Am 22. August dieses Jahres verstarb im 77. Lebensjahr der Altmeister südwestdeutscher Landesgeschichte, Otto Borst, in der alten Reichsstadt Esslingen, der er sich lebenslang verbunden gefühlt hatte. Der Universität Stuttgart gehörte er in der letzten Phase seines Wirkens an. Er wurde 1984 nach der Auflösung der Pädagogischen Hochschule in Esslingen hierher berufen und leitete am Historischen Institut bis zu seiner Pensionierung im Jahre 1989 die neu geschaffene Abteilung für Landesgeschichte. 
Er gehörte zu der Generation, deren Lebensläufe durch den Zweiten Weltkrieg gebrochen waren. Studienrat, Stadtarchivar, Lehrer an der traditionsreichen Esslinger Pädagogischen Hochschule und Professor in Stuttgart, dies war keine alltägliche Karriere. 
Der früheren Stuttgarter Technischen Hochschule war er lange vor seiner Berufung verbunden. Zu ihrem 150jährigen Jubiläum verfaßte er eine der Festschriften. Unter dem Titel „Schule des Schwabenlandes“ geriet sein Werk zu einer breiten Geistesgeschichte des technisch-naturwissenschaftlichen Aufbruchs im frühen 19. Jahrhundert, in deren Kontext er die Gründung von 1829 stellte. Technik, Wirtschaft und Ingenieurleistung waren für ihn vom geistigen Hintergrund nicht zu trennen. „Wege in die Welt“ hieß bezeichnenderweise eine von ihm organisierte Vortragsreihe zur Geschichte der Industrialisierung Württembergs. 
Der Geschichte geistiger Bewegungen und Entwicklungen - in ihrer Konkretisierung im südwestdeutschen Kulturraum - galt sein eigentliches Interesse. Diesen Aspekt der Vergangenheit wollte er vermitteln, nicht in abstrakten Formulierungen und als Theoreme, sondern in plastischer, anschaulicher, lebendiger Erzählung. 
Otto Borst war, ob er redete oder schrieb, Humanist und Rhetoriker im besten Sinne des Wortes. Er wollte Geschichte mitteilen und vermitteln. Er war ein gesuchter Redner und sicher einer der wenigen Historiker, der mit seinen Publikationen mühelos das Schaufenster einer Buchhandlung füllen konnte. Mit Wurzeln in Chile und im fränkischen Hohenlohe - seine Mutter war Chilenin, sein Vater entstammte einer alten Pfarrersfamilie - führte ihn sein beruflicher Weg an das Esslinger humanistische Georgii-Gymnasium, wo er viele Schülergenerationen bis 1971 prägte. Nebenamtlich leitete er von 1958 bis 1971 das Esslinger Stadtarchiv. Hier war er einer der ersten, die unter dem Schock des Scheiterns der bismarckschen Reichsidee den Wert des alten Heiligen Römischen Reiches und insbesondere die „Kulturbedeutung der alten deutschen Reichsstadt“ wiederentdeckten. Sein gleichnamiger Aufsatz zählt bis heute zum Anregendsten, was über die neuzeitliche Reichsstadt geschrieben wurde. Gerne sammelte er Gleichgesinnte um sich, schuf Foren des geistigen Austauschs. Die „Arbeitsgemeinschaft für die Geschichte der oberdeutschen Reichsstädte“ war ein Tauschplatz wissenschaftlicher Erkenntnisse über das alte Reich. Um Verkrustungen zu vermeiden, Denkmalpflege mit den Erfordernissen der modernen Gesellschaft zu verbinden, Soziologie und historisches Erbe zu einer Diskussion zu führen, gründete er die Gesellschaft „Die alte Stadt“; lange Jahre war er Generalsekretär dieser Gesellschaft, deren zentrales Thema der verantwortliche Umgang mit dem geschichtlichen Erbe der Städte in einer modernen Gesellschaft war und deren gleichnamige Zeitschrift eines der wichtigsten Diskussionsforen. Kurz nach seiner Berufung nach Stuttgart gründete er gemeinsam mit dem damaligen Stuttgarter Oberbürgermeister Rommel das „Stuttgarter Symposion“, in dem ein breites öffentliches Gremium im repräsentativen Stuttgarter Ratssaal sich mit zentralen Themen der baden-württembergischen Geschichte auseinandersetzen konnte. Die von ihm gegründete und über lange Jahre geleitete „Schwäbische Gesellschaft“ war zugleich ein Forum zur Diskussion über Grundfragen schwäbischen Geistes wie der Auseinandersetzung mit zentralen Problemen der Gegenwart. 
Fest in den Traditionen württembergischer und schwäbischer Geistesgeschichte verwurzelt, war er ein überzeugter Anhänger des neuen Bundeslandes Baden-Württemberg. Der Stuttgarter Lehrstuhl für Landesgeschichte, den der Landtag nach seinem engagierten Einsatz als Dauerstelle bewilligte, sollte sich besonders der Geschichte Baden-Württembergs als Gesamtheit widmen. Bis zu seinem Tode setzte er sich für die Gründung und dann die Ausgestaltung eines „Hauses der Geschichte Baden-Württembergs“ ein, das die bis in die Gegenwart fortdauernden gemeinsamen geschichtlichen Wurzeln und die neuere Geschichte des Nachkriegsbundeslandes sichtbar und erfahrbar machen sollte. Seine letzten Lebensjahre widmete er einer Geschichte Baden-Württembergs, in der nicht Zahlen und Fakten, sondern geistige Strömungen, Ideen und Menschen im Vordergrund stehen sollten. 
Otto Borst verkörperte den Typus des Schwaben zwischen kleiner und großer Welt, zwischen der kleinen Enge Hohenlohes und dem weiten Kosmos des Geistes, zwischen dem großelterlichen Lehrerhaus in Oberesslingen von der Vaterseite und dem Handelshaus in Santiago de Chile von der Mutterseite, der immer respektvoll empfundenen Duodezresidenz in Waldenburg, dem Dekanat in Langenburg, dem Seminar in Schöntal und der Landesuniversität in Tübingen, der Reichsstadt Esslingen und der württembergischen Landeshauptstadt in Stuttgart, der rigiden Enge des alten Württemberg und der geistigen Weite und der Freiheit des Denkens, dem gemütvollen schwäbischen Dialekt und der kraftvollen humanistisch geprägten Rhetorik. Spannungen in historischen Dimensionen aufzuzeigen, entsprach seinem Denken. „Babel oder Jerusalem“ war bezeichnenderweise eine Sammlung von Aufsätzen zur Stadtgeschichte überschrieben. Er war ein Meister der mündlichen Rede und zugleich ein Homo literatus, der Schreiben als ein Element seines Lebens empfand. Die Universität Stuttgart hat mit ihm sicher einen ihrer profiliertesten Köpfe verloren, dessen Andenken sie in Ehren halten wird. 

Franz Quarthal

 


last change: 12.12.01 / gh
Pressestelle der Universität Stuttgart

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