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Stuttgarter unikurier Nr. 88 Dezember 2001
Forschungsstelle des Historischen Instituts:
Neue Ansätze für die Forschung über den Nationalsozialismus 
 

Eine neue Forschungsstelle der Universität Stuttgart zur NS-Geschichte hat Anfang April die Arbeit aufgenommen. Die in der Ludwigsburger Zentralen Stelle für die Aufklärung von NS-Verbrechen angesiedelte Einrichtung ist dem Lehrstuhl für Neuere Geschichte der Universität Stuttgart zugeordnet. Die 1958 eingerichtete Ludwigsburger Zentrale Stelle enthält die weltweit wohl umfangreichste Aktensammlung zur Unrechtsgeschichte des Dritten Reiches. Neben die juristische Ermittlungsarbeit tritt in jüngerer Zeit zunehmend die wissenschaftliche Aufarbeitung der dort lagernden umfangreichen Materialien. 

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Diesem Zweck dient auch die neue Forschungseinrichtung der Universität Stuttgart unter Leitung von Prof. Dr. Wolfram Pyta, der Anfang 1999*) den Lehrstuhl für Neuere Geschichte übernommen hat. Für die Arbeit in der Forschungsstelle in Ludwigsburg konnten der Privatdozent für Neuere Geschichte an der Universität Essen, Privatdozent Dr. Klaus-Michael Mallmann*), und der Ludwigsburger Historiker Dr. Volker Riess*) gewonnen werden. Die Historiker wollen an die Tradition Eberhard Jäckels in der NS-Forschung anknüpfen, aber auch neue Akzente in der Täterforschung zum Nationalsozialismus setzen. Dazu zählt beispielsweise die Untersuchung der Motivstrukturen und der Rolle des Antisemitismus während dieses Regimes. Möglicherweise lassen sich daraus auch Erkenntnisse zum erstarkenden Rechtsradikalismus in Deutschland gewinnen. Neben der Unrechtsgeschichte des Dritten Reiches soll ein bislang von der Geschichtswissen- schaft vernachlässigtes Gebiet, die justizielle Verarbeitungs- und die gesellschaftliche Rezeptionsgeschichte nach 1945, ein weiterer Arbeitsschwerpunkt sein. 

Täterforschung als neue Richtung
Insbesondere seit dem vor fünf Jahren erschienenen Buch „Hitlers willige Vollstrecker“ von Daniel Goldhagen werde die Frage, „wie konnten ganz gewöhnliche Mitglieder der Gesellschaft zu Tätern werden“ intensiv diskutiert, berichtete Prof. Pyta. Seither sei die „Täterforschung“ als neue Forschungsrichtung entstanden und die Wissenschaft versuche, bei der Arbeit mit diesem „höchst sensiblen Forschungsgegenstand“ Antworten auf Fragen wie „wie konnte dies geschehen, was waren die Motive?“ zu finden.

Zur Geschichte der Zentralen Stelle 
Die Zentrale Stelle der Landesjustizverwaltungen zur Aufklärung von NS-Verbrechen wurde Ende 1958 durch die Justizminister und -senatoren der Bundesrepublik gegründet. Zu den untersuchten Tatkomplexen gehören neben den Verbrechen der Einsatzgruppen bzw. -kommandos und der Gestapo bzw. der Sicherheitspolizei in den von Deutschland besetzten Gebieten die Verbrechen in allen Arten von Lagern, insbesondere auch in den Massenvernichtungslagern für Juden im Osten (Auschwitz, Majdanek, Chelmno, Belzec, Treblinka und Sobibor), die NS- „Euthanasie“, Menschenversuche, systematische Verbrechen an Kriegsgefangenen (Kommissarerlaß), die Beteiligung von Polizei-, SS-Formationen und auch Wehrmachtseinheiten an Massenmordaktionen sowie die Rolle höchster Staats- und Parteistellen und deren Mitarbeiter bei der Planung und Durchführung der NS-Gewaltverbrechen. Es finden sich aber beispielsweise auch Vorgänge zum „Röhm-Putsch“, der „Reichskristallnacht“, den einzelnen Exekutionen von Fremdarbeitern („Sonderbehandlungen“) durch die Gestapo oder auch zu den Verbrechen der Kriegsendphase in Ludwigsburg.

Einmalige Sammlung 
In über vierzig Jahren ist in Ludwigsburg eine wohl einmalige Ansammlung von Unterlagen (Akten, Dokumentensammlung, Karteien) entstanden. Nirgends sonst ist die Tätigkeit der deutschen Justiz im Zusammenhang mit den NS-Verbrechen und die Gesamtheit der NS-Verbrechen selbst besser dokumentiert. Praktisch zu allen Tatkomplexen und -orten lassen sich hier Hinweise finden. In Auszügen (Kopien und Mikrofilmen) befindet sich hier zudem Archivmaterial aus dem In- und Ausland, besonders auch aus osteuropäischen Archiven. Sowohl Akten als auch Dokumente sind großenteils über Karteien und andere Hilfsmittel erschlossen. Diese einzigartige Dokumentation ist im April 2000 größtenteils an das Bundesarchiv, Außenstelle Ludwigsburg, übergegangen. Bis auf weiteres arbeiten neben fünf Mitarbeitern des Bundesarchivs noch 21 Mitarbeiter der Zentralen Stelle der Landesjustizverwaltungen zu Strafverfolgungszwecken mit den Unterlagen. Die Außenstelle des Bundesarchivs soll die Unterlagen der Zentralen Stelle verwalten, sie sichern und sie der historischen Forschung und anderen berechtigten Interessenten zur Verfügung stellen. In diesem Zusammenhang konnte mit dem Bundesarchiv die Errichtung der Forschungsstelle der Universität Stuttgart zur NS-Geschichte in Ludwigsburg vereinbart werden. Daß dieser umfangreiche Aktenkomplex in Ludwigsburg gehalten werden konnte, sei der „tatkräftigen Unterstützung von Justiz- und Wissenschaftsministerium sowie der Universität zur verdanken“, betonte Prof. Pyta. Fast keine andere Forschungseinrichtung in Deutschland habe sonst direkten Zugriff auf derartiges Material. Die neue Forschungsstelle mit zwei von der Uni und dem Wissenschaftsministerium finanzierten Stellen stärke die Position der Stuttgarter Geschichtswissenschaft in der NS-Forschung. Für den Standort Ludwigsburg hat sich auch der lokale „Förderverein Zentrale Stelle“ eingesetzt. Als „Sammlung, die ihresgleichen sucht“, bezeichnete Dr. Mallman den Fundus. Und es ist keine Frage, daß von der Beschäftigung mit dem umfangreichen Material auch die Studierenden profitieren werden, sei es bei Lehrveranstaltungen oder bei Promotionsthemen.

Veröffentlichungen 
Prof. Pyta, Dr. Mallmann und Dr. Rieß in Ludwigsburg planen in den kommenden Jahren insgesamt fünf Quelleneditionen und Monographien zu den NS-Verbrechen 1939 -1945 und deren justizieller und gesellschaftlicher Aufarbeitung sowie Bedeutung. Die Stuttgarter Wissenschaftler haben dabei zwei Zielgruppen im Auge, erläuterte Dr. Mallmann, einerseits ein Fachpublikum sowie andererseits interessierte Laien und vor allem junge Leute. Da die „Zeitgenossenschaft“ aus biologischen Gründen vorüber sei, gelte es - „auch vor dem Hintergrund des virulenten Rechtsradikalismus in Deutschland“ - neue Formen der Vermittlung zu finden.
Eine Veröffentlichungsreihe bei der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft in Darmstadt ist unter Dach und Fach. Folgende Publikationen sind bereits in Arbeit (Arbeitstitel): „Wilder Osten“. Der Weltanschauungskrieg in unbekannten Photos und Texten (Quellenedition), und die Monographien „Der ´grüne´ Holocaust. Die Ordnungspolizei und die Judenvernichtung“, „Die Konstruktion des NS-Täterbildes durch die Nachkriegsjustiz“ sowie „Der Kommandostab Reichsführer-SS, die Brigaden der Waffen-SS und der Holocaust“. Weitere Bände sind in Planung. /zi

*) Prof. Pyta haben wir bereits im Uni-Kurier Nr. 82/83, September 1999 vorgestellt. Informationen zum Werdegang von Dr. Mallmann und Dr. Riess finden Sie in dieser Ausgabe in der Rubrik Personalia.

Kontakt 
Lehrstuhl Neuere Geschichte, Prof. Dr. Wolfram Pyta, Keplerstraße17, 70174 Stuttgart, 
Tel. 0711/121-3450, 3451, 
Fax 0711/121-2757, 
e-mail: wolfram.pyta@po.hi.uni-stuttgart.de sowie
Forschungsstelle Ludwigsburg des Historischen Instituts der Universität Stuttgart, Schorndorfer Straße 58, 71638 Ludwigsburg, 
Tel. 07141/913-833 (Sekretariat), 
Fax 07141/913-832, 

PD Dr. Klaus-Michael Mallmann, 
Tel. 07141/913-819, 
Dr. Volker Riess, 
Tel. 07141/913-818.

 


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Pressestelle der Universität Stuttgart

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